Mini-Literaturgeschichte:

Aus dem Stegreif

Schweizer Literaturgeschichte von Tell bis Frisch
Literaturgeschichte, die selbst Fachleute aus Büchern zusammenklauben müssen, ist für Nichteingeweihte wertlos. Bestand hat nur, was Wurzeln im Kopf schlägt, und statt einer gelehrten Synopse über die 700 letzten Jahre Schweizer Literatur will ich deshalb nur zu Papier bringen, was ich in meinen eigenen Hirnzellen gespeichert vorfinde – so wie vor ein paar Jahren, als ich in Stuttgart einen Schweizer Autor einführen sollte und, als der sich verspätete, auf Wunsch des Publikums aus dem Stegreif darüber referieren musste, was das denn sei, «Schweizer Literatur».

Der Tell-Mythos

Packen wir den Stier bei den Hörnern und beginnen wir bei Wilhelm Tell. Der bekanntlich nicht ein Schriftsteller, sondern eine Wandersagenfigur mit Urner Heimatrecht und deutschem Pass war, denn zum Schweizer Nationalhelden stilisiert hat ihn erst Friedrich Schiller in seinem gleichnamigen Schauspiel, das ganzen Generationen von Schweizern ein pathetisch-stolzes Heimatgefühl vermittelte und auch heute noch an speziellen Tell-Festspielen in Altdorf und Interlaken unentwegt gespielt wird – an letzterem Ort traditionsgemäss mit lebenden Pferden…
Dass nicht ein Schweizer die schöne Tradition begründet hat, hängt nicht etwa mit dem mangelnden Talent, sondern mit der Gefährlichkeit des Stoffes zusammen. Als nämlich 60 Jahre vor Schiller ein gewisser Samuel Henzi in Bern ein Tellendrama schrieb, wurde er von einer autoritären Obrigkeit flugs einen Kopf kürzer gemacht – so sehr fürchtete man den Mythos des Tyrannenmörders, den übrigens bald darauf die auch für das Schweizer «Ancien Régime» tödliche Französische Revolution zum Ehrenbürger machte.
Aber Spass beiseite: Zur Zeit, als Wilhelm Tell auf dem Gebiet der späteren Schweiz sein revolutionäres Unwesen trieb – Max Frisch hat 1971 in seinem «Tell für die Schule» Klarheit in die Angelegenheit gebracht – , waren die Eidgenossen oder «Suisses primitifs» in Europa mindestens so verhasst wie heute, wo man sie zu heimlichen Drahtziehern, Profiteuren und Financiers des Holocaust gestempelt hat. Nach Meinung der wenigen Reisenden, die sich damals in die Alptäler vorwagten, waren sie ausgesprochen hässlich und unfreundlich, und die übrige Welt konnte sie einzig und allein für zwei Dinge gebrauchen: als Kuhhüter und Stallknechte bzw. als Frontbrecher und tollwütige Hunde für die Avantgarde der europäischen Söldnerheere.

Hallers «Alpen» bringen die Wende

Es gehört zu den Kuriositäten der Geschichte, dass es dem Berner Patrizier Albrecht von Haller – dem neben Jean-Jacques Rousseau cleversten Tourismus-Propagator, den die Schweiz je besass – zu Beginn des 18.Jahrhunderts gelang, den Spiess umzudrehen und mit seinen «Alpen» eine Bewegung einzuleiten, die das alpine Hirtenvolk zu glüchlichen, idealen Wesen und seine Welt zu einem erholsamen Aufenthaltsort für Leib und Seele stilisierte.

Basel und Zürich

Dies, obwohl es vor Haller schon Basel, seinen Humanismus und seine Drucktradition – und nicht zuletzt auch jenen ersten Zürcher Literaturstreit gegeben hatte, in welchem Johann Jakob Bodmer, der Wiederentdecker des später von Wagner (übrigens in der Schweiz!) so pathetisch verklärten «Nibelungenlieds», als Kämpfer für das ungebärdige Genie und die dichterische Freiheit auf die Barikaden gestiegen war – ganz anders jedenfalls als in jenem zweiten Zürcher Literaturstreit von 1967/68, den der Heidegger-Adlatus Emil Staiger mit seinen zornig-reaktionären Attacken gegen eben solche Freiheiten und Unbotmässigkeiten in Gang brachte.
Und natürlich waren, um nochmals in jene frühe Zeit zurückzukehren, auch nach Haller nicht alle Schweizer Autoren Verfechter des alpinen Hirten-Mythos. Nicht einmal der Toggenburger Ulrich Bräker, der wie hundert Jahre zuvor der Walliser Hirtensohn Thomas Platter in der Mitte des 18.Jahrhunderts die Form der Autobiographie für sich entdeckte. Und auch nicht Johann Heinrich Pestalozzi, der mit «Lienhard und Gertrud» ein (mörderisch schlecht geschriebenes) Buch über die Rolle der kindererziehenden Frau und Mutter schrieb und dem die Schweiz ein anderes schwer loszukriegendes Klischee verdankt: das vom Volk der Erzieher und Schulmeister.

Und Deutschland?

Hallers «Alpen»-Gedicht ist von Goethe als «Anfang der nationalen Poesie der Deutschen» bezeichnet worden, und auch die drei grossen Schweizer Realisten des 19.Jahrhunderts, Gotthelf, Keller und Meyer, sind ganz selbstverständlich zur deutschen Literatur hinzugerechnet worden: Gotthelf, der Bauern-Homer, der die Deutschen mit moralisch einwandfreien Bestsellern belieferte, während die Schweiz ihn seiner politischen Haltung wegen fast schon abgeschrieben hatte. Gottfried Keller, im Gegensatz zum rückwärtsgewandten Gotthelf der Dichter der demokratischen, vorwärtsgerichteten Schweiz, ein Autor aber auch, der mit seinem «Grünen Heinrich» sein eigenes, prägendes Deutschland-Erlebnis thematisierte und der, Jahrzehnte als Staatsschreiber öffentlich tätig, das lange nachhallende Wort von der Schweiz als «Holzboden für die Kunst» geprägt hat.
Gotthelf, Keller und der dritte im Bund, der sensible Ästhet C.F. Meyer, dominierten einerseits die Schweizer Literaturszene so sehr, dass weniger Profilierte wie Heinrich Leuthold oder die todessüchtige Lyrikerin Gertrud Pfander chancenlos waren, hatten aber genau so wie die sich später (zu unrecht) auf sie berufende Schweizer Heimatliteratur ihr Publikum in Deutschland, wo die Goethesche Schweiz-Begeisterung alle Wandlungen des politischen Systems ungeschmälert überdauerte.

Die andern Sprachen

Was den erst in der Mitte des 19.Jahrhunderts gleichberechtigt in die Schweiz integrierten französischen Sprachbereich betrifft, so hat dieser mit dem Reformator Calvin – zusammen mit dem Zürcher Huldrych Zwingli einer der grossen Theoretiker des Weltprotestantismus – und mit Jean-Jacques Rousseau, dem Geburtshelfer der Französischen Revolution und Begründer eines neuen Naturverständnisses, wichtige, nachhaltige Vorleistungen mitgebracht, die im 19. Jahrhundert in der christlichen Weltdeutung Alexandre Vinets und in der bohrenden Selbsterforschung des Tagebuchschreibers Henri-Frédéric Amiel eine bedeutsame Ergänzung fanden. Im zwanzigsten Jahrhundert dann brachte die Romandie mit Charles Ferdinand-Ramuz, der das bäuerliche Waadtland zu einem Ort der Weltliteratur machte, aber auch mit dem witzig verspieltenCharles-Albert Cingria, den Europäern Robert de Traz, Guy de Pourtalès und Denis de Rougemont, vor allem aber mit dem Globetrotter und überragenden Erzähler und Lyriker Blaise Cendrars eine ganze Reihe prägender Gestalten hervor. Die italienischsprachige Literatur des Tessins dagegen war bis in die Mitte des Jahrhunderts vom Lyriker und Erzähler Francesco Chiesa dominiert, neben dem Autoren wie Felice Filippini , Plinio Martini oder Piero Bianconi sich nur sehr zögernd und andere, wie Orlando Spreng oder Elena Bonzanigo, sich überhaupt nicht durchsetzen konnten. Obwohl erst seit 1939 vierte Landessprache, hat auch das in Graubünden gesprochene Rätoromanische mit Peider Lansel und Men Rauch schon in der ersten Jahrhunderthälfte Dichter von künstlerisch mehr als nur regionaler Bedeutung vorzuweisen.

Die Alpenliteratur

In der Literatur deutscher Sprache dominierte bis etwa 1925 die in Deutschland vielgelesene Heimatliteratur der Zahn, Heer und Jegerlehner, die allerdings schon in der Zeit selbst mit Jakob Bosshart, Heinrich Federer und Meinrad Lienert auch Vertreter aufzuweisen hatte, die das Genre auf eine künstlerisch anspruchsvolle, überzeugende Weise pflegten. Dennoch hatte die vor allem auch in Deutschland geläufige Festlegung der Schweizer Literatur auf Bäuerliches und Alpines zur Folge, dass Autoren, die dem Klichee zuwiderliefen, nicht oder nur am Rande wahrgenommen wurden. Das betrifft vor allem Robert Walser, dessen kurz nach der Jahrhundertwende entstandene Romane erst in den siebziger Jahren, als Suhrkamp ihn in Deutschland neu portierte, zur Kenntnis genommen wurden, aber auch den originell-welthaltigen Philosophen von Bümpliz, C.A. Loosli, den Sozialisten Jakob Bührer oder die an Rilke anknüpfende katholisch-jüdische Erzählerin Regina Ullmann.

Aufarbeitung

Wie erst anfangs der achtziger Jahre, als die erste Jahrhunderthälfte – u.a. unter dem Signet «Frühling der Gegenwart» – neu aufgearbeitet wurde, zu erkennen war, hatte die Stunde Null von 1945 auch in der Schweiz Auswirkungen gehabt, indem eine ganze Generation von Autoren der Zwischenkriegszeit analog zu den Entwicklungen in Deutschland vorschnell verdrängt und vergessen worden war. Seither sind neben Autoren wie Meinrad Inglin und Albin Zollinger, die eigentlich nie vergessen waren, auch der brillante Krimi-Schreiber Friedrich Glauser, die Erzählerin Cécile Ines Loos, die Prosaistin, Reporterin und Weltreisende Annemarie Schwarzenbach, der kämpferische Sozialist Hans Mühlestein, der Tropen- und Berggänger Hamo Morgenthaler, die feinsinnig-melancholische Prosaistin Lore Berger, die Spätexpressionisten Otto Wirz, Alfred Fankhauser und Max Pulver wiederentdeckt und neu in die literarischen Diskussion eingebracht worden.
Wie inzwischen immer deutlicher erkennbar wird, ist die Zäsur von 1945 und die Verdrängung der Vorkriegsautoren auch für die Schweiz gerechtfertigter gewesen, als lange angenommen wurde. Vor und während des 2.Weltkriegs hatten die Schweizer Schriftsteller nämlich mit Hilfe ihres Koporations-Verbandes SSV gegenüber den oft vom Tode bedrohten deutschen Exilanten eine Ausgrenzung vorgenommen, die durch nichts erklärt oder beschönigt werden kann und die in manchenFällen sogar zum Tod führte.
Jedenfalls war es sicher nicht zufällig, dass ab 1950 mit Frisch und Dürrenmatt zwei Autoren in Deutschland (und weit darüber hinaus!) Erfolg hatten, die ihre Werke ganz im Nachvollzug der europäischen Katastrophe schrieben und lauter verunsicherte, fragende, irritierte, um ihre Identität ringende Menschen auf die Bühne stellten. Die schweizerische Herkunft von «Andorra», «Stiller», «Homo faber», «Der Besuch der alten Dame» oder «Die Physiker» spielte dabei höchstens noch in einer thematisch-sprachlichen, keineswegs aber in einem politisch-nationalistischen Kontext eine Rolle, so dass zwischen 1950 und 1980 nicht nur für Frisch und Dürrenmatt, sondern auch für die von diesen ermutigte jüngere Generation der Bichsel, Walter, Marti, Steiner, Muschg, Widmer, Pedretti, Späth, Leutenegger eine fast schon despektierliche, verächtliche Bedeutung bekam. Das hat sich, weil die jüngere Generation der Hürlimann, Schertenleib, Franzetti, Weber, Schweikert usw. ohne die Erinnerung an die inzwischen allgemein als totalitär geächtete «Geistige Landesverteidigung» auskommen muss, und vielleicht auch, weil der wieder etwas intensivierte Verkehr zwischen Deutsch und Welsch die mehrsprachige Literatur zu favorisieren scheint, inzwischen schon wieder leicht modifiziert.
Aber noch ist die Frage, ob es überhaupt eine Schweizer Literatur gebe, nicht beantwortet, und das Ei des Kolumbus wird wohl auch in Zukunft die Erkenntnis sein, dass es in erster Linie auf die Qualität und Überzeugungskraft eines Textes – und erst in zweiter oder dritter Linie auf die Nationalität desjenigen ankommt, der ihn geschrieben hat.
Und wenn Sie mich fragten, welche früheren Schweizer Bücher für mich ganz persönlich am intensivsten nachwirken? So würde ich Ihnen Guy de Pourtalès und seinen «Wunderbaren Fischzug», Cécile Ines Loos’ Kindheitsbuch «Der Tod und das Püppchen», Hugo Martis «Haus am Haff», Annemarie Schwarzenbachs todestrunkenes «Glückliches Tal» und die melancholische Prosa des 1937 verstorbenen Guido Looser nennen.