Der Erste Weltkrieg in der Schweizer Literatur






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Charles Linsmayer


Kaddisch für einen Juden, auf dessen Grab ein Kreuz stand


Wie der Erste Weltkrieg zwischen 1914 und 2006 in der Schweizer Literatur zur Darstellung gelangte



15 février 1919: Ma dernière journée à Strasbourg – ma dernière journée de guerre! C’est presque de l’inconcevable. Quatre années et demie d’habitudes à quitter; le retour à 1914, à l’indépendance, au foyer, aux lettres, à mes livres, à mon travail. Le vieux rythme qui reprendra damain. Les temps militaires sond clos. C’est si nouveau, si soudain, que je ne m’y fais pas tout de suite. L’uniforme à déposer! Rentrer dans le veston civil!*1

Guy de Pourtalès, als Bürger von Neuchâtel und Genf 1881 in Berlin geboren, hatte nach Studien in Deutschland und Jahren eines literarischen Dandytums in Paris 1911 unter dem Einfluss von Maurice Barrès jene französische Staatsbürgerschaft zurückbekommen, die seinen hugenottischen Vorfahren 1685 aberkannt worden war. Mit der Folge, dass er 1914 von Frankreich mobilisiert wurde, als Übersetzer zu den britischen Verbündeten an die Front kam und 1915 im flandrischen Le Touquet in einen deutschen Giftgasangriff hinein geriet. Notdürftig wiederhergestellt, wurde er vom Kabinett Aristide Briand 1916 als Propagandist für die französische Sache in die Schweiz geschickt, kam dann aber, als Briand durch Clemenceau ersetzt wurde und man von seinen engen verwandtschaftlichen Verbindungen zu Deutschland Wind bekam, wieder in den Kriegseinsatz und beendete die militärische Karriere als Presseattaché von General Henri Gouraud bei der 4.Französischen Armee im wiedereroberten Elsass. Vom Stellungsbefehl bis zum Vertrag von Versailles notierte sich de Pourtalès, was er erlebte, exakt in seinem «Journal de Guerre»*2, das er in den 1930er Jahren als eine wichtige Quelle für seinen 1938 erschienenen Roman «La pêche miraculeuse»*3 verwenden sollte. Einem Roman, der zusammen mit Kurt Guggeneims Epochenchronik «Alles in Allem» (1952–1955), Meinrad Inglins «Schweizerspiegel» (1938) und Blaise Cendrars Romanen «L’Homme foudroyé» (1945) und «La Main coupée» (1946) zu jenen nachträglichen literarischen Aufarbeitungen der Kriegszeit von 1914 bis 1918 gehört, deren Autoren aus eigenen Erinnerungen schöpfen konnten, während eine spätere Darstellung wie diejenige von Charles Lewinskys «Melnitz» (2006) auf historische Zeugnisse und Dokumente angewiesen war.


De Pourtalès, Cendrars, Fleg: Einsatz für die bedrohte französische Kultur

Vergleichbare Erfahrungen wie Guy de Pourtalès machte, obwohl seine Motivationen ganz andere waren, auch der sechs Jahre jüngere Blaise Cendrars alias Freddy Sauser, der 1887 als Bürger von Sigriswil BE in La Chaux-de-Fonds zur Welt gekommen war. Er war, obwohl er sich nach Aufenthalten in Petersburg und New York 1912 in Paris niedergelassen hatte und zur künstlerischen Avantgarde der Apolinaire, Cocteau, Chagall, Max Jacob und Modigliani gehörte, noch Schweizer Staatsbürger, als er am 29.Juli 1914 zusammen mit dem Italiener Ricciotto Canudo von den wichtigsten Pariser Zeitungen einen Aufruf publizieren liess, in dem er die in Frankreich lebenden Ausländer zum freiwilligen Dienst in der französischen Armee aufruft:


L’heure est grave. ... Point de paroles, donc des actes. Des étrangers amis de la France, qui pendant leur séjour en France ont appris à l’aimer et à chérir comme une seconde patrie, sentent le besoin impérieux de lui offrir leurs bras.*4 


Folgerichtig liess sich Cendrars am 3.September 1914 in die französische Armee aufnehmen. Zuvor hatte er Flugstunden genommen, weil er Pilot werden wollte. Er kam dann aber als Soldat erster Klasse in die 6. Kompanie des 1.Regiments der Fremdenlegion und geriet mit seinen Mitkämpfern in jenen jahrelangen Stellungskrieg hinein, der begonnen hatte, nachdem der deutsche Vormarsch an der Marne hatte gestoppt werden können. Cendrars Kompanie wurde in die Dörfer Frise, Herbécourt, Carency, Souchez und Bois de la Vache verlegt und stand mitten in jenen mörderischen Kämpfen im Einsatz, bei denen Hunderttausende wegen ein paar Meter Niemandsland ihr Leben verloren, so dass die Überlebenden der vier Fremdenlegions-Regimenter schliesslich in einem einzigen Regiment zusammengefasst werden mussten. Die näheren Umstände, die er Jahrzehnte später in seinen Romanen beschreiben wird, lassen es als mehr als verständlich erscheinen, dass er anders als der Dolmetscher Guy de Pourtalès keinerlei aktuelle Notizen oder Aufzeichnungen machen konnte. Auch Cendrars trug allerdings von seinem Kriegseinsatz eine dauernde Behinderung davon: am 28.September 1915 wurde er während der grossen Offensive in der Champagne so schwer verletzt, dass ihm der rechte Arm über dem Ellbogen amputiert werden musste. Die Verletzung befreite ihn vom Fronteinsatz und gab ihn wieder seinen literarischen Projekten zurück, sollte aber dreissig Jahre später auch dem Roman «La Main coupée» den Titel geben, wo der Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs ohne jene Beschönigung evoziert wird. Im übrigen hat Cendrars am 16.Februar 1916 die französische Staatsbürgerschaft erworben. Kriegshelden wurde die Naturalisation ehrenhalber gewährt – genau so, wie sie 1921 auch einem anderen Welschschweizer Schriftsteller, der für Frankreich im Felde gestanden war, gewährt wurde: Edmond Fleg (1874–1963), dem Verfasser des Romans «L’enfant prophète»*5 von 1926.


Robert de Traz: Einsatz für die bedrohte Schweiz


De Pourtalès, Cendrars und Fleg sahen 1914 jene französische Kultur bedroht, der sie sich unabhängig von ihrer schweizerischen Nationalität zugehörig fühlten, und eilten dem bedrohten Frankreich mit ihrem persönlichen Einsatz zu Hilfe. In der Person des aus einer Genfer Familie stammenden, in Paris aufgewachsenen Robert de Traz gab es aber auch den umgekehrten Fall: denjenigen eines Zeitgenossen, der durch die wachsende Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich die Existenz der diesen beiden Nationen sprachlich und kulturell zugehörigen Schweiz in ihrem friedlichen Zusammenhalt bedroht sah und sich nach seiner Rückkehr nach Genf publizistisch – als Redaktor der «helvetisch» ausgerichteten Zeitschrift «Les Feuillets» –, organisatorisch – als Initiant der von ihm, Alexis François und Gonzague de Reynold 1912 begründeten «Nouvelle Société Hélvétique» – und vor allem auch militärpolitisch für einen verstärkten Zusammenhalt des mehrsprachigen Landes einsetzte. Letzteres verfolgte er vor allem mit seinem 1913 publizierten Roman «L’Homme dans le rang», der grosse Teile der intellektuellen welschen Jugend für den Dienst in der Schweizer Armee zu begeistern vermochte und in den Augen vieler eine Institution als sinnvoll und nützlich erscheinen liess, die man nur allzu leicht als deutschschweizerisch dominiert oder hoffnungslos überlebt disqualifizieren konnte.*6


Grenzdienst statt Krieg: für Schweizer Autoren der Normalfall

Hinsichtlich des Krieges 1914-1918 aber war de Traz schliesslich dann in der gleichen Lage wie Meinrad Inglin, Kurt Guggenheim und viele andere: er erlebte den Krieg nicht wie de Pourtalès, Cendrars oder Edmond Fleg als Kampf auf Leben und Tod, sondern als das, was unter dem Begriff «Grenzwacht» in die Schweizer Geschichte eingehen sollte. So dass nicht zuletzt auch die Erfahrungen jener, die später über diese Zeit schreiben sollten, nicht halb so spannend und abenteuerlich waren wie diejenigen der bei ausländischen Heeren in den aktiven Kriegseinsatz gelangten Zeitgenossen. «Aktivdienst» nannte man diesen «Kriegsersatz» euphemistisch, und er bestand daraus, dass man in regelmässigen Abständen zu einem mehrmonatigen Grenzdienst aufgeboten wurde, der sich aus Wache-Stehen, Gräben ausheben, Exerzieren, Marschieren und Banalitäten wie Kantonnement putzen, Gewehr reinigen, Essen fassen usw. zusammensetzte. All das in einer Situation, in der weder die Löhne gesichert waren, noch für die daheim gebliebenen Angehörigen ein genügender materieller Schutz bestand, so dass zum Frust des Nichtstuns die Sorge um die berufliche und soziale Zukunft hinzukam und auch der Gegensatz zwischen den gewöhnlichen Soldaten und den häufig aus besseren Kreisen stammenden Offizieren zunehmend zu Spannungen führte, die dann 1918 mit ein Grund für den Generalstreik sein sollten.


In der Zerreissprobe: die Schweizer Literaturszene bei Kriegsbeginn

Das Problem war, dass man im Herbst 1914 in der Deutschschweiz mit Bewunderung für die Kaiserlichen Armeen nicht zurückhielt, während in der Romandie der Zorn über den heimtückischen Überfall auf Belgien und die Beschiessung der Kathedrale von Reims keine Grenzen kannte. Und es ist erstaunlich, wie besonnen sich die Schriftsteller beider grosser Sprachregionen sich angesichts dieser Zerreissprobe verhielten.

Als Ernst Zahn, der Präsident des noch jungen, 1912 gegründeten «Schweizerischen Schriftstellervereins» in der deutschen Zeitschrift «Land und Meer» ein offen deutschfreundliches kämpferisches «Sturmlied»*6 publizierte, veranlasste ihn der Verein sofort zum Rücktritt und ersetzte ihn durch den welschen Schriftsteller Paul Seippel, der den Zorn der Romands wieder zu glätten vermochte. Auch als im April 1915 der Berner Dialektautor Rudolf von Tavel zum Präsidenten gewählt wurde und kurz darauf im «Berner Tagblatt» einen gegen die Romands gerichteten Artikel zum Thema «Graben zwischen Deutsch und Welsch» publizierte, gelang es, ihn ganz schnell zum Rücktritt zu überreden und erneut Paul Seippel zu portieren.

Bereits am 14.Dezember 1914 aber hatte vor der Gruppe Zürich der Neuen Helvetischen Gesellschaft der Dichter Carl Spitteler seine Rede «Unser Schweizer Standpunkt»*7 gehalten, in der er seine Landsleute, darunter selbstredend vor allem die deutschsprachigen, aufforderte, in der aktuellen Situation bei aller klaren Benennung von unbestreitbaren Kriegsgräueln «unseren Schweizer Standpunkt» nämlich den neutralen, einzunehmen. Was Spitteler bei Parteigängern Deutschlands ebenso in den Geruch eines Franzosenfreunds brachte, wie Paul Seippel, der mit seinen «Vérités zurichoises»*8 in den darauffolgenden Wochen für die Romandie etwas Analoges wie Spitteler für die Deutschschweiz leistete, in den Geruch der Deutschfreundlichkeit. Nicht vergessen werden darf aber auch, dass das konziliant-neutrale Klima ebenso wie die Grossmut der Behörden es ermöglichten, dass anders als 1939–1945 pazifistische Schriftsteller wie Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Iwan Goll, Richard Huelsenbeck, René Schickele oder Romain Rolland in der Schweiz Zuflucht fanden und nicht nur die Literaturszene – man denke nur an den Zürcher Dadaismus! – , sondern auch die Diskussion um die Themen Krieg und Neutralität entscheidend belebten. Ein Höhepunkt in diesem Sinn war Rollands pazifistische, den Krieg als solchen verdammende Artikelserie « Au-dessus de la mêlée»*9, für die der Romancier 1915 den Literaturnobelpreis bekam.


Max Rascher als Verleger der Stunde


Sowohl für die in der Schweiz publizierte Exil-Literatur, als auch für die kritisch-patriotische, auf Erhalt des Burgfriedens ausgehende Publizistik von Schweizern nahm der von Max Rascher (1883–1962) 1908 gegründete Zürcher Rascher-Verlag eine zentrale Stellung ein. Da erschienen nicht nur «Feuer» von Henri Barbusse und «Menschen im Krieg» von Andreas Latzko, sondern auch die Bücher der Schweizer Kriegsgegner Charlot Strasser und Konrad Falke. Mit Falkes Essay «Der schweizerische Kulturwille» eröffnete Rascher 1914 die Reihe «Schriften für Schweizer Art und Kunst», die eine tonangebende Rolle für die schweizerische geistige Landesverteidigung – ein Begriff, den es damals noch nicht gab –  im Ersten Weltkrieg spielte und als deren Nr. 2 anfangs 1915 Spittelers «Schweizer Standpunkt» gedruckt erschien. Weiter mischten sich in der Reihe dann staatspolitische oder visionär-thesenartige Schriften wie Hans Töndurys «Wirtschaftliche Unabhängigkeit», Max Hubers «Schweizerischer Staatsgedanke» oder Adolf Kellers «Von der inneren Erneuerung» in zunehmendem Masse mit rein literarischen Texten wie Gottfried Kellers «Landvogt von Greifensee», Jakob Bossharts «Erbteil» oder Robert Walsers «Prosastücken».


Der Frauenfelder Huber-Verlag und Faesis «Füsilier Wipf»


Ebenfalls Schweizerisches versammeln wollte die kleinformatige Buchreihe «Schweizerische Erzähler» des Verlags Huber, Frauenfeld, die sich allerdings auf literarische Texte eingrenzte, 1916 mit der Erzählung «Maria Thurnheer» von Paul Ilg gestartet wurde und 1918 mit Band 24, J.C.Heers «Jugendfahrt», zu Ende ging. In dieser Reihe, die von der «Frankfurter Zeitung» als «ein Zeugnis der zum Bewusstsein erwachten nationalschweizerischen Literatur» gelobt wurde, erschien anfangs 1917 als Band 10 jene Erzählung, die das Grenzwachterlebnis der Schweizer am erfolgreichsten, populärsten und nachhaltigsten thematisierte: Robert Faesis Erzählung «Füsilier Wipf».*10

Die Geschichte handelt von dem kindlich-naiven Coiffeur-Gesellen Wipf, der 1914 in den Grenzdienst aufgeboten wird, da zunächst zur Lachnummer seines Bataillons avanciert, bis er schliesslich zum selbstbewussten Soldaten heranreift und in der Kameradschaft mit den Mitbetroffenen an verschiedenen Einsatzorten an der Grenze zu einer ganz neuen, sehr schweizerischen Lebenseinstellung findet, in welcher der oberflächliche Klatsch im Coiffeurladen ebenso wenig Platz hat wie die hochnäsige Verlobte und die ihn eine Zukunft als Bauer an der Seite einer einfachen Bauerntochter anstreben lässt. Geschickt hat Faesi all die Themen in seine Erzählung hinein genommen, die auch woanders zur Darstellung der Schweizer Grenzbesetzungszeit gehörten: das Chaos beim Bekanntwerden der Kriegserklärungen, die Gerüchte und die Panikmache, das Hamstern von Lebensmitteln, den Versuch, Beziehungen und finanzielle Verhältnisse vor dem Abmarsch ins Lot zu bringen, dann aber auch die Frustration angesichts des sinnlosen Drills, das Erlebnis der Kameradschaft als sinnstiftendes Element, die Langeweile und Ereignislosigkeit des Wachestehens, die Faszination des «Ernstfalls» bei den kriegführenden Ländern, wo wirklich etwas passierte, die zunehmende Entfremdung vom Zivilleben und gleichzeitig auch die wachsende Sorge um die soziale Absicherung von Familie und Angehörigen. Bis auf das bürgerlich-konventionelle Happy-End, das darin besteht, dass sich Wipf bei seinem vorläufig letzten Einrücken in den Aktivdienst von seiner schwangeren Frau, der Bäuerin, verabschiedet, leitet Faesi aus der Darstellung der ersten zwei Jahre Grenzbesetzung keinerlei Lehren oder Folgerungen ab, was man von anderen, weniger erfolgreichen Darstellungen des Stoffes nicht behaupten kann.

Im Huber-Verlag erschien im übrigen 1916 auch Paul Ilgs Roman «Der starke Mann», der zwar in der Vorkriegszeit spielt, aber mit der Darstellung eines zuletzt brutal zu Fall kommenden Schweizer Offiziers von arrogantem preussischem Verhalten in pazifistischen Kreisen Beifall fand. Insbesondere die 1917 von Payot, Lausanne, publizierte französische Fassung «L’Homme fort» wurde in der Romandie begeistert als Attacke auf die deutschfreundlichen Offiziere im Umfeld von General Wille begrüsst.


Die Grenzwacht bei Zurlinden und Moeschlin


Hans Zurlinden leitet von seiner «Symphonie des Krieges», die das Erlebnis des Grenzdienstes mit einer längeren Reise ins Deutsche Reich verknüpft, nach der Beschreibung des «Taumels» und der «Verzweiflung» im Schlusskapitel «Aufschwung» nicht nur die Forderung nach einer neuen Reformation, sondern auch jene nach einer neuen Welt und einem neuen Menschen ab: «Wer weiss, wir stehen vielleicht unmittelbar vor der Tür einer neuen, ungeahnt gewaltigen Reformation. (...) Ich muss reiten nach der neuen Welt, hin in die weiten, unendlichen Ländereien der neuen Menschheit.»*11 Wobei allerdings zu sagen ist, dass Zurlinden bereits den Waffenstillstand von 1918 mitberücksichtigen konnte, der 1917, beim Erscheinen von «Füsilier Wipf», noch in weiter Ferne lag.

Einen positiven Ausweg aus der Frustration der jahrelangen Untätigkeit an der Landesgrenze erfand Felix Moeschlin in seinem Roman «Wachtmeister Vögeli», der bereits 1914 entworfen war, aber erst 1922 bei Grethlein in Zürich gedruckt erschien. Sein Wachtmeister ist ein in Kanada lebender Schweizer Farmer, der bei Kriegsausbruch gegen den Willen seiner schwangeren Frau in die Schweiz reist und da Dienst tun will, weil sein Vaterland in Gefahr ist. Wie Füsilier Wipf wird Vögeli zunächst von seinen Kameraden abgelehnt, findet aber Respekt, als er in Abwesenheit des Leutnants den Zug übernimmt und mit ihm bei Inspektionen und Defilées glänzt. Als die Monotonie des Dienstbetriebs kaum mehr zu ertragen ist, gibt der Kompaniekommandant Vögeli und seinem Zug eine Chance. Er versetzt sie auf einen abgelegenen jurassischen Bauernhof, der durch einen Brand beschädigt und durch den Streit unter seinen Bewohnern in Verruf geraten ist. Vögeli und seinen Mannen gelingt es, nicht nur den Hof wieder aufzubauen, sondern auch den Familienzwist zu schlichten, so dass General Wille, als er wie durch Zufall in dem Hof erscheint, eine Postkartenidylle mit friedlich tätigen Menschen vorfindet. Vögeli hat zwar keinen Krieg gewonnen und auch die Monotonie des Grenzdienstes nicht beenden können, aber er reist im Bewusstsein nach Kanada zurück, dass er seine vaterländische Pflicht getan hat.


Die Stunde der Lesebücher


Im Zweiten Weltkrieg sollte der Eugen-Rentsch-Verlag in Nachahmung ausländischer Vorbilder eine eigentliche «Tornisterbibliothek» publizieren, aber auch schon im Ersten Weltkrieg gab es schon bald Bestrebungen, die Soldaten im Grenzdienst mit Lektüre zu versehen. Das war die Stunde der Lesebücher, und so liess der SSV seinem im Frühling 1915 erschienenen Sammelband «Schweizererde»*12  bereits im Herbst einen Band mit dem Titel «Grenzwacht» und dem Untertitel «Der schweizerischen Armee gewidmet vom Schweizerischen Schriftstellerverein» folgen. Da schildert Paul Seippel in knapper Weise und auf Deutsch und Französisch das Erlebnis des Kriegsausbruchs 1914, wird Faesis «Füsilier Wipf» vollständig abgedruckt, liefert Gonzague de Reynold auf Französisch eine pathetische Hommage an «Notre armée», erinnern sich Meinrad Lienert, Carl Spitteler und Jakob Bosshart an die Mobilmachung von 1870, während Charlot Strasser einen gewissen Zbinden Fritz ein eidgenössisches Schützenfest als seinen «grössten Tag» erleben lässt, Gustav Gamper Aphorismen zum Thema Grenzdienst liefert und Felix Moeschlin unter dem Titel «Die Grenzbesetzung als Erlebnis» bereits auch jene Not beschreibt, die von vielen immer wieder beklagt werden sollte und die er pathetisch «Tatensehnsucht» nennt.

Der neben «Füsilier Wipf» längste Text des Bandes aber waren die ersten 60 Seiten des Bataillonstagebuchs, mit dem die Armee gleich bei der Mobilmachung den Verfasser von «L’Homme dans le rang», betraut hatte. Robert de Traz’ französisch geschriebener Text erinnert mit seinem militärischen Enthusiasmus und seinem Lob der Disziplin denn auch sofort an jenes populäre Buch:

Diese ersten Stunden, die wir im Zeughaus verbracht haben, waren ermutigend für uns, trotz der beklagenswerten Zeit. Den zivilen Ängsten und Nöten entronnen, wurden wir in eine Ordnung eingefügt, durch eine Disziplin zur Ruhe gebracht und durch die Vorstellung der genau umrissenen Aufgaben, die wir zu erfüllen haben, ermutigt. Welche Erleichterung, endlich unter den Waffen zu stehen und von Stunde zu Stunde, von Grad zu Grad eine immer grössere Kampfbereitschaft zu erreichen.*13 


Sätze wie diese finden sich in vielen Texten, die den Beginn des Ersten Weltkriegs beschreiben, und zwar auf französischer und deutscher wie auch schweizerischer Seite, obwohl es in letzteren zunächst ja nur um das Einrücken in eine Verteidigungsstellung und nicht um den Beginn eines Krieges handelte. Es ist, als ob man ganz allgemein des Zivillebens müde gewesen wäre und von der nun anbrechenden grossen Zeit der Auseinandersetzung ein neues Lebenskapitel, ja vielleicht sogar einen neuen Lebenssinn erwartete.

Auch der Verlag Rascher gab 1917 eine gebundene Anthologie heraus. «Schweizerisches Novellen- und Skizzenbuch» hiess sie, und neu daran war nur das Vorwort von Konrad Falke, alles übrige waren bereits in der Reihe «Schriften für Schweizer Art und Kunst» publizierte Beiträge. Bemerkenswert war dabei der Zweitdruck von Robert Walsers «Prosastücken» und die Aufnahme eines Textes in Berner Dialekt: Rudolf von Tavels «Glogge vo Nüechterswyl». Mit dem Krieg und der Grenzbesetzung befassten sich nur zwei der (wieder) abgedruckten Texte: «Ausgewählte Skizzen von der Grenzwacht» von Charles Gos, deutsch von Walter Sandoz, und «In Völker zerrissen» von Charlot Strasser.

Die Novelle des aus Bern zugewanderten 30jährigen Psychiaters Strasser, der eben eine eigene Praxis als Nervenarzt eröffnet hat, sieht von der schweizerischen Situation mehr oder weniger ab und lässt in expressionistischer Schreibweise einen in Österreich aufgewachsenen Franzosen, dessen Bruder auf französischer Seite gefallen ist, am Krankenbett seiner Mutter sich «das Leid von der Seele schreiben».*14 Während die Mutter im toten Sohn einen Helden sehen will, gelingt es dem Erzähler nicht, eines der Völker zu hassen, denen er sich verbunden fühlt: weder England, noch Frankreich, noch Deutschland, noch Russland. Er ist innerlich zwischen all diesen Völkern zerrissen und kann nur eines hassen: den Krieg, der das Leben seines Bruders auf derart grausame Weise beendet hat: «Ich sah ihn auf offenem Felde, der Schnee von seinem Blute verfärbt, im Morgengrauen, nachdem er die ganze Nacht im Fieberdunst um Hilfe geschrien, verendet, krepiert, verkrümmt, wie die um ihn liegenden Pferdekadaver...»*15

Strasser, der mit der jüdischen russischen Arztkollegin Vera Eppelbaum (1884-1941) verheiratet war, hat auch in seiner späteren Rückerinnerung an die Kriegszeit nicht die Grenzbesetzung thematisiert, sondern in Form eines Kriminalromans die nach Zürich geflüchteten bzw. da wohnhaften Schriftsteller beider kriegführenden Nationen und ihr Verhältnis zu ihrem schweizerischen Umfeld unter die Lupe genommen. «Geschmeiss um die Blendlaterne» heisst nicht gerade asylantenfreundlich der Roman, der 1933 in der von ihm mitbegründeten «Büchergilde Gutenberg Zürich Wien Prag» erschien und in dem um einen mysteriösen Mordfall herum als Gäste des Cafés Maulbeerbaum u.a. Jean Arp (Georg Schnarp), Hugo Ball (Benno Kugla), Andreas Latzko (Leutnant Wratocek), der anarchistische Arzt Fritz Brupbacher (Abraham Real), der Kritiker Eduard Korrodi (Dr. Wankelung) und der Verleger Max Rascher (Otto Rundhaupt) auftreten. Wie wenig Sprengkraft Strasser dem Dadaismus, in dessen Zeichen die Zürcher Weltkriegsjahre standen, zutraute, gab er schon 1930 in einem Volkshochschulvortrag zu verstehen: «Denn was ist der Dadaismus anderes, der Exotismus, ja gewisse Entgleisungen des Expressionismus, als eine Übertreibung, eine Zuspitzung des Formalen, die inhaltlich absolut belanglos bleibt und höchstens einigen in der Bohême übersättigten angeblichen Feinschmeckern etwas scheinbar Originelles zum Sichwundern und Schmunzeln liefert? Aber mit Revolution oder gar mit neuen Weltanschauungsinhalten haben solche Spielereien nichts zu tun.»*16

Drei Monate vor Kriegsende, Anfang August 1918, erschien eine Anthologie, in der 117 Schweizer Autorinnen und Autoren vertreten waren, in der aber trotz des eng damit zusammenhängenden Publikationszwecks, der Krieg so gut wie ausgeblendet war. Die «Dichtergabe zu Gunsten notleidender Schweizerkinder» wurde herausgegeben vom «Komitee für Unterbringung notleidender und erholungsbedürftiger Schweizerkinder» und mit einem Vorwort von Meinrad Lienert im Verlag Helbling und Lichtenhahn in Basel publiziert. Das Buch kostete 6 Franken, der Erlös wurde verwendet, um notleidenden und erholungsbedürftigen Schweizer Kinder 4 bis 6 Wochen lang zwecks Kräftigung und Erholung bei Pflegefamilien, in Heimen und Sanatorien unterzubringen, und zu den Autoren, die einen möglichst harmlosen und unterhaltsamen Text oder ein Gedicht beisteuern sollten, gehörten u. a. Jakob Bosshart, Konrad Falke, J.C. Heer, Paul Ilg, Peider Lansel, Eligio Pometta, Gonzague de Reynold, Charlot Strasser, Benjamin Valotton und Ernst Zahn. Auch von Hermann Hesse wurde, obwohl er damals noch nicht wieder Schweizer Staatsbürger war, ein Gedicht abgedruckt, in das der Dichter, als wolle er dessen Tabuisierung doch noch unterlaufen, eine Anspielung an den Krieg hineingeschmuggelt hatte. Der «Frühlingsnachmittag», an dem das dichtende Ich nebst «Ziegengeläut hinterm Walde» und «Knabengeheul im Wind» auch ein Mädchen Schubert-Lieder singen hört, endet nämlich mit dem Vers: «All dies ist ewig, wird immerzu wiederkehren, / wenn die Kanonen verbrummt und verrostet sind./ Spiele weiter und singe, sing, Nachbarkind, / dieser lieben Erde und ihrer Erlösung zu Ehren.»*17 

Erst 1934, 16 Jahre nach Kriegsende, erschien auch noch eine Anthologie, die jenen Frauen gewidmet war, die 1914-1918 den Platz der an die Grenze gerufenen Männer eingenommen und Familien, Betriebe und öffentliche Einrichtungen unter oftmals grossen Opfern am Leben gehalten hatten. Nicht ganz zu Unrecht trug das Buch, in dem viele, oftmals weder akademisch, noch schriftstellerisch gebildete Frauen unter eigenem Namen oder anonym über ihre Erfahrungen während der Grenzbesetzung erzählten, den Titel: «Der Grenzdienst der Schweizerin 1914-1918. Von Frauen erzählt». «Die Frauen und Mütter sind gleichsam die zweite Armee unseres Landes», hiess es im Vorwort, das bezeichnenderweise nicht eine Frau, sondern der Schiftsteller Eugen Wyler geschrieben hatte, «sie sind jener Geist, jene stille Macht, jene hingebende Liebe, die unsere Väter und Söhne und Brüder an die Grenze begleitet haben.»*18 


Guy de Pourtalès’ «Wunderbarer Fischzug» und Meinrad Inglins «Schweizerspiegel»


Unter den Schweizern, die Jahrzehnte später den Ersten Weltkrieg zum Gegenstand eines historischen Romans machten, war Guy de Pourtalès mit Jahrgang 1881 der älteste. 1901, eben zwanzig geworden, hatte er sich erstmals mit dem Soldatenwesen konfrontiert gesehen, und seine Erfahrungen in der Artillerierekrutenschule Frauenfeld waren nicht dazu angetan, Lust auf eine Schweizer Armeekarriere zu machen. Jedenfalls notierte er sich in sein Tagebuch:


Huit semaines à Frauenfeld dans l’artillerie. Huit semaines trés pénibles, dont j’ai gardé un fort mauvais souvenir car je n’ai rien d’un soldat. Nous étions une vingtaine de Welches noyés dans une grosse Masse de Suisse-allemands, et je ne crois pas trahir la vérité en disant qu’on se montra pour nous très dur, et même injuste. L’espèce de rivalité qui existait entre romands et alémaniques prenait sous l’uniforme un caractère aigu et parfois méprisant.*19


Als er Anfang August 1914 von Frankreich aufgeboten wird, bereut er allerdings bald, in der Schweiz keine Armee-Karriere gemacht zu haben. Mit einem Dutzend anderer Männer in einem Viehwagen von Paris nach Chartres verfrachtet, wird er als Soldat zweiter Klasse ohne Diensterfahrung eingestuft und zur Ausbildung in eine Reservekompanie abkommandiert. Erst nachdem er dem Platzkommandanten von Chartres sein Auto zur Verfügung gestellt und als Fahrer in dessen Dienst getreten ist, wendet sich das Schicksal. Oberst Ross-Johnson, ein englischer Verwandter, holt ihn als Dolmetscher zu den englischen Truppen, wo er in englischer Uniform an den Nahtstellen der gemeinsamen englischen und französischen Front für die Verständigung zwischen den Alliierten sorgen soll. So kommt er 1915 zu der in Flandern eingesetzten Brigade Ross-Johnson und erlebt den Krieg aus nächster Nähe mit. Er lernt das Leben in den Schützengräben kennen, wird aus nächster Nähe Zeuge, wie die Granaten seine Kameraden zerfetzen, und doch erlebt er, so man seine «Carnets de Guerre» wörtlich nimmt, alles auf eine seltsam unbeteiligte, reporterhaft distanzierte Art und Weise: als nehme er an diesem Krieg nur teil, um darüber ein literarisches Werk zu schreiben. Und tatsächlich ist in einer Notiz vom 31.Januar 1915 von einem Werk die Rede, in dem er «all das, was ich seit dem 1.August gesehen habe, auf eine Anzahl beschreibender Szenen reduzieren will. (...) Man muss das mit der grossen Kelle anrühren, und ich brauche ein Konzept, das ganz neu ist für mich. Eine Mischung zwischen Shakespeare und Stendhal. Wahr bis ins kleinste Detail hinein, und gross wie eine Tragödie.»*20

Als Guy de Pourtalès zwanzig Jahre später daran ging, den Plan konkret umzusetzen, verknüpfte er seine Autobiographie und damit auch seine Kriegserlebnisse mit einem Projekt, an dem er schon seit Jahren gearbeitet hatte und das in Anspielung an Rousseaus Roman «La nouvelle Héloise» den Arbeitstitel «La dernière Héloise» trug. Es war angeregt durch eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die ihn zwischen 1923 und 1930 bewegt hatte. Die beiden Elemente machten in ihrer Entwicklung noch vielerlei Wendungen durch, aber jedenfalls bestand der Roman «La pêche miraculeuse», als er 1938 erschien, aus der Lebensgeschichte des Komponisten Paul de Villars, für den das Erlebnis des Ersten Weltkriegs etwas enorm Prägendes ist und der bis zuletzt zwischen den zwei Geliebten Louise und Antoinette hin und her gerissen wird, die, wie sich aus den Materialien zum Roman zweifelsfrei ergibt, beide einen Teil des Wesens jener faszinierenden Unbekannten mitbekommen haben, von der wenig mehr bekannt ist, als dass ihr Vorname mit E. begann.

Auch Meinrad Inglins Roman geht auf eine lange Vorgeschichte und vielerlei Prägungen zurück. Geboren 1893 in Schwyz, verliert er früh Vater und Mutter, unterbricht das Gymnasium für eine Uhrmacherlehre, jobbt als Kellner, studiert ab 1913 in Neuchâtel, Genf und Bern Literatur, sucht lange nach Orientierung. Er absolviert im Sommer 1913 in Chur die Infanterie-Rekrutenschule und noch im gleichen Herbst in Bellinzona die Unteroffiziersschule. 1915 wird er dann in Zürich die Offiziersschule besuchen und als Leutnant und später als Oberleutnant Dienst tun. Er liest Nietzsche, stellt sich gegen das Bürgertum und bewundert das preussische Junkertum, wobei eine seiner entscheidenden Erfahrungen der zu Beginn des «Schweizerspiegels» geschilderte Manöverbesuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Herbst 1912 ist – ein Ereignis, das Inglin kurz vor seiner Rekrutierung auf einer Fusswanderung von Schwyz in die Ostschweiz mit Begeisterung wahrgenommen hat.

Ähnlich wie bei de Pourtalès geht der Plan für den Roman in die Kriegszeit zurück. Am 22. Dezember 1917 notierte Leutnant Inglin ins Tagebuch:


Ein Soldatenroman. Ich-Form. Ganz einfache Sprache. Meine Erlebnisse in der Grenzbesetzung. Keine blosse Erzählung, sondern Gestaltung, Kunstwerk. Aber sehr schlicht. Der schweizerische Soldatenroman. Nicht ich, der Schriftsteller und erlebende Künstler als Held, sondern der Durchschnittssoldat, der typische Korpus und Leutnant.*21

Im Unterschied zu de Pourtalès beschränkt sich Inglin mit den Zeitraum 1912 bis 1918, vom Kaisermanöver bis zum Generalstreik, und bringt auch weder autobiographische Momente, noch eine als Klammer dienende Liebesgeschichte in das Werk hinein. Er hat aber in Jakob Bossharts Roman «Der Rufer in der Wüste» einen bewusst gewählten Vorläufer*22 und ist zudem stark von der neuerlichen Bedrohung der Schweiz durch die Naziherrschaft in Deutschland beunruhigt, so dass die Geschichte des unspektakulären und ruhmlosen schweizerischen Standhaltens im 1.Weltkrieg im Sinne, aber nicht im Pathos der geistigen Landesverteidigung als Mahnung verstanden werden konnte, auch den aktuellen Bedrohungen gegenüber standhaft zu bleiben.

«Schweizerspiegel» und «La Pêche miraculeuse» miteinander zu vergleichen, ist nicht nur schwierig, weil ersterer ein Grenzbesetzungs- und letzterer ein echter Kriegsroman ist. Schwierig ist das auch, weil im Roman von de Pourtalès die Figur des Paul de Villars unangefochten im Mittelpunkt steht und in vielem die Meinung seines Autors wiedergibt, während die im Mittelpunkt von Inglins Roman stehende Familie Ammann verschiedenen Lagern angehört: Oberst Ammann verkörpert eine zum Untergang verurteilte grossbürgerliche Welt, Severin, der älteste Sohn, ist deutschfreundlich, reaktionär und demokratiefeindlich, Paul, der mittlere Sohn, ist ein intellektueller Sozialdemokrat, Fred, der jüngste, kann sich lange nicht entscheiden, bis er schliesslich zur bäuerlichen Herkunft der Familie zurückfindet.

Dennoch gibt es immer wieder erhellende Parallelen, wenn man die beiden gleichzeitig entstandenen Romane einander gegenüberstellt. So sieht sich Paul de Villars während seines Deutschlandaufenthalts in seiner Abneigung gegen das Reich und seine Arroganz bestärkt, als er dem Kaiser gegenüberseht und sich über den «untersetzten Mann mit dem fahlen Gesicht»*23 nur wundern kann. Im Vorspiel des «Schweizerspiegels» kennt Severins Begeisterung angesichts des deutschen Kaisers keine Grenzen, während Paul «einer unüberlegten Regung folgend, den Hut vom Kopf riss und, völlig gegen seine stille Art, ,Vive la France!‘ rief.»*24

Sehr deutlich sind die Unterschiede, wenn es um die schweizerische Neutralität geht. Der für Frankreich begeisterte Paul de Villars erkennt im zentralen Symbol der Romans, Konrad Witz’ Gemälde «Der wunderbare Fischzug», die Aufforderung, hinaus zu gehen und Menschenfischer zu werden, ja er meint geradezu: «,Neutral‘ sein, ,frei‘ sein, ist nicht gerade das die Sünde, die uns ins Verderben reisst?»*25 Der Sozialist Paul Ammann im «Schweizerspiegel» dagegen steht für einen erweiterten Neutralitätsbegriff, wenn er argumentiert: «Neutralität? Ach, die Frage muss ja viel gründlicher gestellt werden, als es vom Schweizer Standpunkt aus möglich ist. Die Front der Friedensfreunde läuft nicht den staatlichen Grenzen entlang, sondern durch die ganze Menschheit.»*26

Sowohl im aktiven, schreckliche Opfer fordernden, aber bald einmal in den Schützengräben erlahmenden Krieg bei de Pourtalés, als auch in Inglins Aktivdienst gibt es einen Punkt, an dem die zur Untätigkeit gezwungenen Soldaten die Monotonie als traumatisch zu empfinden beginnen und ihre Kampfbereitschaft erlahmt. «Die verwirrte Trauer», heisst es bei de Pourtalès, «die in Erwartung eines nicht eintretenden Ereignisses auf allen Massen lastet, senkte sich auch auf diese Menschenmengen herab, die um das erregende Schauspiel ihres Opfers und ihres Heldentums betrogen worden waren.»*27 Als Paul Ammann im «Schweizerspiegel» mit den Worten «Ich mache nicht mehr mit» sein Käppi in den Schnee wirft, hat Oberleutnant Junod Verständnis für den Mann mit dem «Verleider» und meint dazu: «Langeweile, Überdruss, Dienstmüdigkeit können einer Armee offenbar gefährlicher werden als ernsthafte Kämpfe...»*28

Im «Schweizerspiegel» ist das Schlimmste für die Soldaten der Drill, der sie zu tagelangen Märschen zwingt. In «La Pêche miraculeuse» dagegen geht es ums Ganze, um Leben und Tod. So ist eine der eindrücklichsten Szenen der Moment, als Paul de Villars verwundet wird und unter Todesangst mit letzter Kraft den Schutzraum erreicht. «Die Männer hoben Paul auf, und sogleich ist der Schmerz wieder da. Aber bereits hat er einen Trick herausbekommen, um sich davon zu befreien: er braucht nur die Hand fest auf die Wunde zu pressen, das Bein nicht zu bewegen – und schon hört das Blut zu strömen auf und gerinnt.»*29

Es bleibt nicht aus, dass die beiden Formen von Militäreinsatz, die Grenzbesetzung und der wirkliche Krieg, miteinander verglichen werden. Als Paul Ammann als Journalist einen Verwundetentransport des Roten Kreuzes im Zürcher Hauptbahnhof besucht, erfährt er im Gespräch mit einem verwundeten Deutschen, wie einfach es ist, von der Schweiz aus den Krieg zu verurteilen. «Darüber können Sie sich hier wohl kein richtiges Urteil bilden», erklärt der Verwundete, nachdem Paul davon gesprochen hat, ein solcher Krieg werde «auf Dauer ja sinnlos.» «Sie sehen hier nur die eine Seite, Sie sehen nur die Wunden, die der Krieg verursacht hat, aber Sie wissen vielleicht nicht, um was für einer grossen Sache willen sie empfangen wurden; mit wieviel Pflichtgefühl, persönlicher Bereitschaft und Tapferkeit.»*29b In «La Pêche miraculeuse» klagt während Pauls Schweizer Urlaub ein gewisser Max, ein entfernter Verwandter, über den preussischen Drill bei der Schweizer Armee und diskreditiert die «Grösse des Dienens» als «Quatsch». Paul reagiert ungehalten darauf und ruft aus: «Du weisst ja gar nicht, wovon du redest, Kleiner. Euch lässt bloss der Friede keine Ruhe, ich kenne das, diesen Etappen-Koller.» Als Max daraufhin bezweifelt, dass Pauls Krieg zu irgend etwas führen werde, bringt das diesen zu einem Geständnis: «Ja, er würde zu etwas führen, sein Krieg!

Und gerade deshalb, weil es sein Krieg war, einer persönliche Auseinandersetzung des Ich mit dem Ich, ein Ringen der Seele mit dem Tod. Konnte er das begreifen, dieser Rotzjunge, der noch nicht trocken hinter den Ohren war? Konnte er eine Ahnung haben von der Brüderschaft der Schützengräben, von diesem grossen Gefühl, gemischt aus Erbarmen, Leiden, dunkler Hingebung und Langeweile, in dem plötzlich das Bewusstsein aufleuchtet, einer Grössenordnung anzugehören, eine Art Heiliger zu sein, mehr zu leisten, als man wert ist?»*30

Das Jahr 1918 ist im «Schweizerspiegel» das handlungsstärkste: nach drei Jahren Abwarten und Gewehr-bei-Fuss-Stehen gibt es zwei Ereignisse, bei denen die Armee massgeblich mitbetroffen ist: die Grippe-Epidemie, die nun tatsächlich eine ganze Reihe von Toten fordert, und der Generalstreik, bei dem erstmals mit scharfer Munition geschossen wird. «Die Alliierten», sagt der Spitalarzt Junod zu Paul Ammann, «haben ihren teuer bezahlten Sieg, die Mittelmächte ihr Unglück oder was sie daraus machen, und wir die Epidemie. Sie dürfte genügen, hoffe ich. Wer damit zu tun hat, braucht sich über die Vorgänge in Berlin, in Aussersihl oder an den Fronten nicht auch noch aufzuregen.»*31 Während Inglin den Militäreinsatz gegen die Demonstranten und Streikenden detailliert beschreibt, handelt de Pourtalès das Geschehen in der Schweiz in fünf Zeilen ab und nimmt von der Grippe keinerlei Notiz: Sein Protagonst Paul de Villars kann sich zu den Siegern zählen und erlebt voller Enthusiasmus den Einzug der Franzosen ins zurückeroberte Strassburg mit. Überhaupt ist er völlig überzeugt, dass der Krieg und seine Opfer nicht vergebens waren und dass aus dem Untergang der alten Welt im Sinne der biblischen Offenbarung, Kapitel 21, ein neuer Himmel und eine neue Erde hervorgehen würden. Das wird auch deutlich, als Victor Galland, das Oberhaupt des Genfer Bankhauses Galland, einer Frau begegnet, die ihre zwei Söhne auf französischer Seite verloren hat. Heute wisse sie, dass sie nicht umsonst gestorben seien, erklärt die Trauernde. Und Victor Galland kommt dabei folgendes in den Sinn: «,Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde‘, sagt der Apostel. Wie sie wohl aussehen würde, diese neue Erde, gereinigt vom alten Mythos von Gut und Böse, wie ihn Glaube und Gesetz in die Steine der Kathedrale eingemeisselt hatten? Wie würde er aussehen, dieser neue Himmel, befreit von der Gegenwart Gottes?»

In einer wichtigen Szene im Zusammenhang mit dem triumphalen Einmarsch der Franzosen in Strassburg präzisiert de Pourtalès auch jenen Nationalismus, der Paul de Villars an der Seite Frankreichs hatte kämpfen lassen. Als ein Elsässer als «Boche» beschimpft wird, nachdem er sich der deutschen Sprache bedient hatte, packt Paul de Villars ein Wutanfall: «,So‘, rief ich, ,Französisch muss er sprechen, der kleine Alte, jetzt, in dieser Minute! Vielleicht muss er auch vom Fleck weg die Franzosen lieben, was?‘ ... Ich verstand jetzt plötzlich, warum ich an diesem Krieg teilgenommen hatte, wusste, was mein Frankreich gewesen war, und was das ihre. ... Was machte es schon aus, wenn meine Begeisterung durch diese zwei Tölpel einen Dämpfer erhalten hat? Das ist doch eine Lektion, die meinen Stolz, mir selbst eine ideale, geistige Heimat geschaffen zu haben, nur noch vergrössern kann. Das Frankreich, das wir in der Fremde lieben, ist das Frankreich der heiligen Johanna, das Frankreich Heinrichs des Vierten, der Drei Musketiere und des Jules Verne, das Frankreich Napoleons und Stendhals. Dieses und kein anderes Frankreich hat das Elsass tanzend und singend auf seinen Strassen empfangen, und es hat damit das Recht wieder erlangt, grossmütig zu sein, den Hass zu vergessen und also auch frei und offen die Sprache Wagners und Bismarcks zu sprechen.»*33

Eine vergleichbare, um den Sinn des Einsatzes kreisende Szene enthält auch der «Schweizerspiegel». Da nämlich, wo Divisionär Bosshart, als er von Severin Ammann zur Mitgliedschaft in einer chauvinistischen vaterländischen Front aufgefordert wird, ein Bekenntnis zur viersprachigen Schweiz und zu den Ansprüchen ablegt, die die schweizerische Form von Demokratie an ihre Bürger stelle. Die schweizerische Demokratie sei «nicht für alle Länder die absolut richtige Lösung», erklärt er dem aufmüpfischen Neffen. «Es gibt auf diesem Gebiet keine absoluten Lösungen. Aber dieses geistig geräumige, ausserordentlich tolerante Staatswesen ist das denkbar Klügste, was sich eine so gemischte Gesellschaft wie unser Volk im Lauf der Jahrhunderte erschaffen konnte. ... Und ein verletzliches, immer sehr gefährdetes Gebilde, dieser Staat, wie alles hochkultivierte Menschenwerk! Er erträgt keine extremen Lösungen und eignet sich schlecht als Tummelplatz für Unmündige, er ist im Gegenteil auf Mass und Gleichheit angewiesen. Die Schweiz ist ein Land für reife Leute.» Daraufhin folgt, als die Rede auf den noch immer nicht beendeten Generalstreik kommt, eine These, die in dem Roman schon mehrfach artikuliert wurde: die These vom vorzeitigen Gefechtsabbruch: «Sie werden Gefechtsabbruch blasen, verlass dich drauf. Der rechtzeitige Gefechtsabbruch, mein Sohn, ist eine unserer wichtigsten und notwendigsten Bewährungen. Er fällt draufgängerischen Leuten nicht immer leicht. Wir haben ihn an der Grenze vier Jahre lang geübt, während die andern Draufgänger daheim auf dem Papier gegen innere und äussere Feinde sich heldenhaft austoben durften. Wir haben hundertmal scharf geladen und mussten immer wieder entladen, wir haben zu prachtvollen Sprüngen angesetzt und mussten sie immer wieder abbrechen. Wir wurden der Teilnahme am weltgeschichtlichen Sturm, an grossartigen Taten und Abenteuern, an nationalem Ruhm und Heldentum nicht gewürdigt, das Schicksal hat uns übergangen – also, verflucht nochmal, beherzigen wir diese Lehre und halten uns nicht an das Schicksal, sondern an die Freiheit!»*34


Blaise Cendrars Kriegsroman «La main coupée»


Als Blaise Cendrars 1943 in Aix-en-Provence damit beginnt, seine Kriegserlebnisse literarisch zu gestalten, ist seit drei Jahren ein neuer Krieg im Gang, muss er sich vor der Gestapo und den Häschern des Vichy-Régimes versteckt halten und hat er seit zwei Jahren nichts mehr geschrieben. Bis er mit seiner linken Hand unversehens die Geschichte des Fremdenlegionärs van Lee in die Maschine zu tippen beginnt, der 1915 vor seinen Augen durch eine Granate zerfetzt wurde, als sei er «foudroyé», vom Blitz zerschmettert worden. «L’Homme foudroyé» hiess denn auch der erste Teil seiner Kriegserinnerungen. Und seine Darstellung ist soviel drastischer und beklemmender, unmittelbarer und blutiger als die anderen hier vorgestellten Kriegsdarstellungen, weil er schreibend nochmals all die Qualen durchlebte, der damals er selbst und seine Kameraden ausgesetzt waren:


Der Akt des Schreibens ist ein Brand, der ein grosses Gedankengewühl in Flammen aufgehen lässt und Bilderassoziationen in Funkenlohen verwandelt, um sie dann in knisternde Glut und Asche sinken zu lassen... Schreiben bedeutet lebendigen Leibes verbrennen, bedeutet aber auch aus der Asche wiedergeboren zu werden.*35


An «L’Homme foudroyé» schloss sich unmittelbar «La Main coupée» an, sein eigentlicher Kriegs-Roman, der Cendrars Kriegsverstümmelung im Titel trägt, obwohl sie in dem Buch gar nicht beschrieben ist.*36 Erst ganz am Schluss des Buches geht er indirekt auf die Verwundung ein, als er, als wolle er das Trauma in ein Bild bannen, von einer Hand erzählt, die zum Erstaunen der Männer im Schützengraben vom Himmel fällt und im Boden Wurzel schlägt: «Ich hab’ sie vom Himmel fallen sehen ... Sie hat sich auf unsere Stacheldrahtverhaue gesetzt und ist wie ein Vogel auf die Erde gehüpft. Ich habe zuerst geglaubt, es sei eine Taube. Es war grauenvoll. Ich hab’Angst...»*37

Obwohl Cendrars, der Abenteurer, die Begegnung mit dem Krieg zunächst durchaus als eine Flucht aus dem snobistischen Pariser Literatenmilieu verstand, hat er in seiner nachgereichten Bestandesaufnahme das Phänomen dann doch wie kaum ein anderer in seiner ganzen Schrecklichkeit literarisch zu evozieren vermocht. Und zwar mit voller Absicht, wie er selbst es formulierte:


Man verstehe mich nicht falsch, nein, der Krieg ist nichts Schönes, und vor allem ist das, was man als darin verwickelter Befehlsempfänger sieht, ein in den Mannschaften verlorener Mann, eine Kennummer inmitten Millionen anderer, zutiefst sinnlos und scheint keinem Ganzen zu gehorchen, sondern dem Zufall. Der Formel marschiere oder krepiere kann man dieses andere Axiom hinzufügen: Geh, wohin ich dich schubse! Genau das ist es, man geht, man schubst, man stürzt, man krepiert, man steht wieder auf, man marschiert und fängt wieder von vorne an. Von allen Schlachtszenen, die ich erlebt habe, habe ich nur ein Bild eines totalen Chaos zurückgebracht. Ich frage mich, wo die Kerle das herholen, wenn sie behaupten, historische oder hehre Momente erlebt zu haben.»*38


So ist es nur folgerichtig, wenn Cendrars sich auf die Schicksale einzelner konzentriert, auf das Leben und Sterben jener Männer, die er in den Schützengräben kennengelernt hat, und die er nun eben gerade nicht als namenlose Träger von Kennummern, sondern ganz konkret mit ihrem individuellen Schicksal, ihrer Herkunft, ihren Träumen und mit all dem zeichnet, was durch den brutalen plötzlichen Tod ausgelöscht worden ist. Diesen Männern, die seiner Obhut anvertraut waren, ist im Grunde der Roman «La Main coupée» gewidmet, sie, die den Krieg nur in Ausnahmefällen überlebt haben, sollen in ihrer Absonderlichkeit, ihrem Draufgängertum, ihrem Mut und ihrer Unverdrossenheit in Geschichten wieder auferstehen, die trotz tragischem Hintergrund vielfach den Charakter von Abenteuerromanen oder von Hanswurstiaden annehmen.

Etwa jene von Lang, dem luxemburgischen Herzensbrecher und Frauenheld, dessen Schnauzbart man an einer Hausfassade klebend findet, nachdem er, scheinbar bereits in Sicherheit, in einer Kutsche mitten auf dem Marktplatz von Bus von einer Granate zerfetzt worden ist. Jene vom kanadischen Gentleman-Farmer, der mit 300 Pferden einrückt, die niemand will. Oder jene der amerikanischen Mennoniten Buywater und Wilson, die im Schlamm der Schützengräben «Körperhygiene» trieben und bei einem plötzlichen Angriff auch mal nackt hinter ihren Gewehren standen. Die Geschichte von Rossi, dem Vielfrass, der in seiner Ecke bei einer einsamen Mahlzeit von einer Granate zerfetzt wird. Oder jene von Garnero, den seine Kameraden blutüberströmt auf dem Schlachtfeld begraben und den Cendrars zehn Jahre später in Montmartre als wunderbar Geretteten wieder trifft.

Zum Pazifisten ist Cendrars allen schrecklichen Erfahrungen zum Trotz nicht geworden. Und doch ist seine Darstellung des Ersten Weltkriegs aus der Sicht eines einfachen Korporals wie kaum ein anderes Buch geeignet, unabhängig von jeglicher politischen oder nationalen Zuordnung den Krieg als etwas derart Sinnloses und Absurdes zu diskreditieren, dass eigentlich niemand mehr eine Wiederholung wünschen sollte.


Kurt Guggenheim und Charles Lewinsky


In Kurt Guggenheims Tetralogie «Alles in Allem» (1952-1955) ist der Erste Weltkrieg ebenso wie in Charles Lewinksys Familiensaga «Melnitz» nur ein Teil einer Epochendarstellung, die bei Guggenheim von 1890 bis 1945 und bei Lewinsky von 1871 bis 1945 dauert. Guggenheim erzählt anhand von über 140 zum Teil historischen, in der Mehrzahl aber erfundenen Figuren die Geschichte der Stadt Zürich vom Fin de siècle bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Hauptfigur ist der dem Autor nachempfundene Kaufmannssohn Aaron Reiss, der trotz literarischen Interessen Nachfolger im väterlichen Geschäft wird, nach dem Unfalltod des Vaters aber schon bald Bankrott geht und nach einer Zeit der Orientierungssuche zum Chronisten seiner Stadt wird. Die unzähligen, eher filmisch denn konventionell literarisch erzählten Szenen werden insgeheim zusammengehalten durch die schwärmerische, am Ende platonisch bleibende Liebesgeschichte zwischen Aaron Reiss und der nichtjüdischen Unternehmerstochter und späteren Ärztin Jacqueline Voubrasse, der Aaron auf den letzten Seiten des Buches seine Chronik widmet.

Obwohl er nur einen kurzen Teil des Romans in Anspruch nimmt, sind mit dem Ersten Weltkrieg dennoch vielerlei Aspekte verbunden, die auch bei anderen Chronisten wichtig sind. So zeigt Guggenheim anhand des Salon de Beauté von Madame Bariffi anschaulich auf, wie Zürich mit den wohlhabenden Kriegsflüchtlingen beider Parteien ungerührt weiter seine Geschäfte macht*39. Guggenheim evoziert aber auch das Zermürbende der langen Dienstzeiten, und anders als Inglin hat er ein tiefes Verständnis für die wirtschaftlich-sozialen Nöte der Zivilbevölkerung, schildert eine Frauendemonstration gegen die hohen Lebensmittelpreise*40 , beschreibt die Besprechung des Dienstverweigerers Reto Arquint mit dem pazifistischen Professor Leonhard Ragaz – «Gott ist nicht da, uns die Verantwortung abzunehmen», lässt er Ragaz dem jungen Mann sagen, «Gott ist im Gegenteil die Verantwortung.»*41– und lässt nicht nur den anarchistischen Arzt Bluntschli alias Fritz Brupbacher und den Friedensapostel Eidenbenz alias Dätwyler zu Worte kommen, sondern schildert minutiös genau auch die Entwicklung, die zum Generalstreik führt und wie dieser schliesslich militärisch beendet wurde. Die Ärztin Jacqueline Voubrasse gibt ihm Gelegenheit, die verwundeten Soldaten in den Blick zu bekommen, als ein Zug mit zum Austausch bestimmter Gefangener im Hauptbahnhof Zürich Halt macht und die Damen des Empfangskomitees mit Rosen anmarschieren:«Und es lagen die Rosen an den Stümpfen der Beine, den Stummeln der Arme, und also hielten sie Einzug, diese Teile von Männern, in die grosse Halle mit den Seilen, hinter denen die Leute dieser Stadt standen und an diesem Morgen zum ersten Male die Wirklichkeit des grossen Krieges in ihre gestrige Welt hineinschreiten sahen.»*42

Aus dem, was Jacqueline Aaron erzählt, erfahren wir auch näheres über die Grippe-Epidemie, für deren unzählige Opfer der grosse Tonhallesaal in ein Lazarett umgewandelt wurde. Wobei es Guggenheim nicht bei der Beschreibung von Tatsachen und Umständen bewenden lässt, sondern das Leid immer wieder am Schicksal von einzelnen Betroffenen wie dem Patienten Ineichen festmacht, dem Jacqueline mit Engelsgeduld beim Wasserlösen hilft.*43

Das Militärische ist bei Guggenheim nicht nur ein zur Landesverteidigung notwendiges Übel, sondern steht auch eng mit dem Hauptthema seines Buches, der Integration neu Hinzugekommener, in Zusammenhang. Das wird sehr schön sichtbar, als zu Beginn des Krieges sowohl Aaron Reiss als auch Josef Gidionovics, Sohn des aus Polen zugewanderten Schürzenfabrikanten Leib Gidionovics, in die Rekrutenschule einrücken. Während Aaron sich einerseits in der Uniform seiner Persönlichkeit beraubt fühlt, sich andererseits aber auch mit den andern Altersgenossen zusammen «aufgenommen» und «aus der stets abwehrbereiten Vereinzelung» der Juden erlöst fühlt*44, sieht der junge Schürzenreisende in all dem bloss «einen Frondienst in der Verbannung, in der Zerstreuung des jüdischen Volkes, im Galuth. Ihre Heimat aber sei Erez Israel, das Land Israels, in das sie einst alle nach der Wanderung durch die Wüste der Schmach und der Erniedrigung zurückkehren würden, wie es der grosse Herzl, der neue Moses, verkündet habe.»*45 Josef wird denn auch 1938 nach New York weiterziehen, während Aaron sich in Zürich integriert und als Chronist zum Deuter und Dichter der Stadt wird.

Auch Charles Lewinskys Roman «Melnitz» findet nur zum Teil in der Zeit des Ersten Weltkriegs statt. Es ist, da die Mitglieder und Verwandten der jüdischen Familie Meijer ganz im Zentrum stehen, stärker als bei Guggenheim, der sich um Vertretung aller Konfessionen und Schichten bemüht, ein jüdisches Buch, relativiert das aber auch wieder, indem das Jüdische nicht unkritisch gesehen ist und auch seine Kritiker und Gegner zu Worte kommen. Lewinsky bekennt sich aber auch sprachlich zum jüdischen Hintergrund des Buches, indem er im Gegensatz zum betont zürcherischen Guggenheim eine ganze Reihe von Begriffen und Ausdrücken auf Jiddisch präsentiert und in einem Glossar näher erklärt.

Die Kapitelüberschriften liefern mit den Jahreszahlen 1871, 1893, 1913, 1937 und 1945 auch gleich die Chronologie, wobei das letzte Kapitel nur wenige Seiten umfasst, auf denen Melnitz, die geheime, schon im 17.Jahrhundert verstorbene Melnitz, dazu aufruft, die Opfer der Shoa niemals zu vergessen. Dem Ersten Weltkrieg gilt das Kapitel 1913, und wie im ganzen Roman stellt Lewinsky auch da die Zeit nicht wie Guggenheim als Chronist, sondern als Geschichtenerzähler dar. Und wie im ganzen Buch ist das Blickfeld nicht auf die Schweiz beschränkt, sondern öffnet sich auf ganz Europa. So ist der Ferienaufenthalt von Chanele und Janki Meijer auf Sylt eine Art Vorspiel zu einer Geschichte, in der dann die während des Ersten Weltkriegs an den osteuropäischen Juden begangenen Verbrechen ins Visier geraten werden. Während der vermeintliche französische Kriegsheld Janki sich auf der Nordseeinsel mit fünf deutschen Kriegsveteranen von 1870/71 anfreunden will – sie akzeptieren ihn bereitwillig als Franzosen, gehen aber auf Distanz, als er sich als Jude zu erkennen gibt! –, diskutiert Gattin Chanele mit der Familie Wasserstein aus Galizien über eine Verbindung zwischen deren Tochter Chaje Sore und ihrem (homosexuellen!) Sohn Arthur*45, eine geradezu ideale Eheschlissung, die nur noch von Ehemann Janki abgesegnet werden sollte... Die Sache ist längst vergessen, als der Erste Weltkrieg ausbricht und mit den jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa auch Herr und Frau Wasserstein samt Tochter völlig mittellos in Zürich ankommen. Ihr Sohn wurde von den Russen aufgespiesst, die Tochter vergewaltigt. Und nun erzählt Lewinsky in einer wundervoll vitalen Sequenz, wie der homosexuelle Arthur, der von den Sylter Gesprächen nie etwas erfahren hat, bei Hersch Wasserstein aus lauter Schuldgefühlen um die Hand der unglücklichen Chaje Sore anhält – und eine Abfuhr bekommt: «Es ist nicht anständig, sich über die Unglücklichen lustig zu machen.»*47 Mitten ins östliche Kriegsgebiet hinein führt eine der spannendsten Schilderungen des Romans: die Reise des Zalman Kamionker nach Galizien, wo er seinen Sohn Ruben, einen angehenden Rabbiner, auf abenteurliche Weise aus den Händen der Russen befreit.*48 In den westlichen Kriegsschauplatz führt dann die Geschichte von Alfred Meijer und Desirée Pomeranz, die nicht zusammenkommen können, weil die ganze Verwandtschaft sich gegen die Verbindung des christlich getauften Sohns von François Meijer und der Tochter des streng gläubigen Pinchas Pomeranz zur Wehr setzt. Schliesslich findet man die Lösung, dass Alfred Desirée ein Jahr lang nicht mehr sehen dürfe und in Paris ein Praktikum absolvieren solle. Da aber bricht der Erste Weltkrieg aus und wird Alfred, obwohl sein Vater für ihn sofort das Schweizer Bürgerrecht beantragt, in die französische Armee eingezogen. Im Dezember 1914, nach einer militärischen Schnellbleiche, wird der junge Mann dann im Elsass, unweit der Schweizer Grenze, von einer verirrten Granate der eigenen Seite getötet. Was Lewinsky die Gelegenheit gibt, auch einmal zu erzählen, was passierte, wenn die Angehörigen einen Brief erhielten, der mit den Worten «J’ai la lourde charge de vous annoncer que le soldat...»*49 begann, was in jenen Jahren in allen europäischen Sprachen unendlich oft geschah. Lewinsky lässt die Geschichte von Alfred und Desirée – die dem ihr vorenthaltenen Geliebten ein Leben lang als Witwe die Treue halten wird – nicht mit der Todesmeldung zu Ende gehen, sondern beschliesst das Kapitel «1913» mit der Fahrt der beiden Väter, des rechtgläubigen Juden Pinchas Pomeranz und des christlich getauften François Meijer, zu Alfreds Soldatengrab im Elsass. Und da bittet dann der ungläubige François den gläubigen Pinchas in einer bewegenden Szene, für seinen Sohn den Kaddisch zu beten. «Den Kaddisch für Alfred Meijer, den man zum Christen gemacht hatte und zum Schweizer, und dem das alles nichts genützt hatte. Den Kaddisch für einen Juden, auf dessen Grab ein Kreuz stand.»*50

Charles Lewinsky ist 28 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zur Welt gekommen, alle seine Informationen stammen aus zweiter Hand. Und doch gelingt es ihm anhand von ein paar wenigen Geschichten und Schicksalen, jenen Krieg, der Europa verändert und umgeformt hat wie kein zweiter, auf eine Weise ins Bild zu setzen, die jedem, der sein Buch gelesen hat, für immer im Gedächtnis haften bleibt.






Fussnoten


1 Guy de Pourtalès: «Journal II, 1919–1941», Préface et Présentation de Rose et Yvonne de Pourtalès, Gallimard, Paris 1991, S. 23

2 Das «Journal de Guerre» befindet sich im Nachlass de Pourtalès im Centre de recherche sur les Lettres romandes in Lausanne und wird gegenwärtig für den Druck vorbereitet.

3 Die deutsche Übersetzung, «Der wunderbare Fischzug» («La pêche miraculeuse»), mit einem biographischen Nachwort neu auf deutsch herausgegeben von Charles Linsmayer, Edition Reprinted by Huber Nr. 9, Verlag Huber, Frauenfeld 1991, befasst sich im Anhang ausführlich mit der Entstehung des Romans.

4 Zitiert nach Miriam Cendrars, «Blaise Cendrars», Éditions Balland, Paris 1984, S. 407

5 Vergleiche dazu: «Hell wach träumend zwischen Genf, Paris und einem imaginären Jerusalem. Eine Annäherung an Leben und Werk von Edmond Fleg». Nachwort zur deutschen Ausgabe von «Das Prophetenkind», Reprinted by Huber Nr. 21, Frauenfeld 2005, S. 161–239.

6 Das Gedicht ist abgedruckt in Ueli Niederer, Otto Böni, André Imer, Hugo Loetscher: «Literatur geht nach Brot. Die Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes», Sauerländer, Aarau 1987, S.24

7 Zuletzt 2009 von Dominik Riedo herausgebracht und kommentiert im Verlag Pro Libro, Luzern.

8 Im Journal de Genève. Wichtig auch Seippels «Vérités suisses», zwei Vorträge, die er 1916 im Genfer Reformationssaal hielt und die 1917 unter dem Titel «Schweizerische Wahrheiten» in den «Schriften für Schweizer Art und Kunst» des Zürcher Rascher-Verlags auch deutsch erschienen.

9 «Au-dessus de la melée» wurde im «Journal de Genève» publiziert und erschien 1915 in der Édition Attinger Frères, Neuchâtel, auch als Buch.

10 Faesi hat die «Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst», die 1938 in der Verfilmung von Hermann Haller und Leopold Lindtberg mit Paul Hubschmid, Heinrich Gretler, Robert Troesch, Zarli Carigiet, Max Werner Lenz, Sigfrit Steiner, Elsie Attenhofer, Lisa della Casa und vielen anderen zu einem Paradestück der geistigen Landesverteidigung werden sollte, später nicht unbedingt zu ihrem Vorteil umgearbeitet. Zuletzt erschien sie 1938 im Verlag Huber, Frauenfeld, zusammen mit 18 Standbildern aus der Verfilmung.

11 Verlag Rascher, Zürich 1919, S. 166/67

12 Der Band erschien mit einem Vorwort von Robert Faesi bei Huber & Co., Frauenfeld und enthielt neben deutschen Texten von Jakob Bosshart, Heinrich Federer, Simon Gfeller, Alfred Huggenberger, Johannes Jegerlehner, Meinrad Lienert, Josef Reinhart und Ernst Zahn in französischer Sprache Charles-Ferdinand Ramuz’ Erzählung «La Mort du Grand Favre».

13 Übersetzung vom Verfasser.

14 Charlot Strasser: «In Völker zerrissen», in: «Schweizerisches Novellen- und Skizzenbuch»,mit einem Geleitwort von Konrad Falke, Verlag von Rascher & Cie, Zürich 1917, S. 302-332, S. 302

15 a.a.O., S. 328

16 «Arbeiterdichtung. 7 Vorlesungen, gehalten an der Volkshochschule Zürich», Verlag VPOD, Volkshaus, Zürich 1930, S.11

17 «Dichtergabe zu Gunsten notleidender Schweizerkinder», Helbling & Lichtenhahn, Basel 1918, S. 72/73

18 «Der Grenzdienst der Schweizerin», Verlag Alfred Schmid & Cie., Bern o.j. (1934), S.9

19 Aus «Chaque mouche a son ombre», zitiert nach Guy de Pourtalès. Exposition du Centenaire. Catalogue, Genf 1981, S.55

20 Guy de Pourtalès: «Chaque mouche a son ombre», Gallimard, Paris 1980, Eintrag vom 31.1.1915

21 Zitiert nach Beatrice von Matt, «Meinrad Inglin. Eine Biographie». Atlantis-Verlag, Zürich 1976, S. 170

22 Das 7.Kapitel des zweiten Teils von Bossharts Roman heisst «Schweizerspiegel». In seinem Zentrum steht aber nicht der Krieg, sondern eine Chronik der Jahre 1908 bis 1914 aus der Sicht eines am Ende als «Rufer in der Wüste» scheiternden Idealisten.

23 Guy de Pourtalès, «Der wunderbare Fischzug» («La pêche miraculeuse»), a.a.O., S 131

24 Meinrad Inglin, «Schweizerspiegel», Roman, im folgenden zitiert nach der Ausgabe, die 1981 in der Edition Frühling der Gegenwart des Ex Libris-Verlags erschienen ist. Es handelt sich um den Nachdruck der zweiten, definitiven Ausabe von 1955. Das Zitat ist da S. 16/17 zu finden.

25 «Der wunderbare Fischzug», a.a.O., S. 293

26 «Schweizerspiegel», a.a.O., S. 386

27 «Der wunderbare Fischzug», a.a.O., S. 322

28 «Schweizerspiegel», a.a.O., S. 339/40

29 «Der wunderbare Fischzug», a.a.O., S. 340

29b «Schweizerspiegel», a.a.O., S. 397

30 a.a.O., S. 363 – Das Thema «Brüderschaft der Schützengräben» wird auch evoziert in Felix Moeschlins Roman «Wir wollen immer Kameraden sein», erschienen 1926 im Grethlein-Verlag Zürich. Dabei handelt es sich um eine Erfahrung auf der anderen, der deutschen Seite der Front. Ein Frontsoldat erwacht sieben Jahre nach dem Krieg aus dem Koma und hat, während alle seine Kameraden aus dem Schützengraben tot sind, in einer Kapsel noch ein Blatt, auf dem sie sich ewige Kameradschaft und den Einsatz für eine bessere Welt nach dem Krieg geschworen haben. Georg Lutz, so heisst der Mann, will zusammen mit den zwei, drei Überlebenden jenes Versprechen einer besseren Welt umsetzen, stösst aber überall auf Ablehnung und Unverständnis und wird am Ende wieder in das Irrenhaus zurückgebracht, wo er seit sieben Jahren lebte.

31 «Schweizerspiegel», a.a.O., S. 670

32 «Der wunderbare Fischzug», a.a.O., S. 405

33 «Der wunderbare Fischzug», a.a.O., S. 410

34 «Schweizerspiegel», a.a.O., S. 700–703

35 Blaise Cendrars: «Die Signatur des Feuers» («L’Homme foudroyé»). Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni, Lenos Verlag 2000, S. 13

36 Er hat darüber in der Erzählung «J’ai saigné» von 1938 Genaueres berichtet. Der Text ist seit 2004 als Nr. 62 der Reihe Minizoé der Editions Zoé, Genf, greifbar.

37 Blaise Cendrars: «Die rote Lilie» («La main coupée»). Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni. Mit einem Nachwort von Peter Burri. Lenos Verlag, Basel 2002, S.369

38 a.a.O., S. 81

39 «Alles in Allem», Werke III, mit einem Nachwort und Illustrationen von Hans Falk und Arnold Kübler neu herausgegebenvon Charles Linsmayer, Reprinted by Huber Nr. 12, Frauenfeld 1996, S.472/3

40 a.a.O., S, 454-455

41 a.a.O., S. 441

42 a.a.O., S. 395

43 a.a.O., S. 517/18

44 a.a.O., S. 278

45 a.a.O., S. 279

46 Charles Lewinsky, «Melnitz. Roman», Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2006, S. 446/447

47 a.a.O., S. 527

48 a.a.O., S. 529-548

49 a.a.O., S. 551

50 a.a.O., S. 558