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Jeanne Hersch

2010 ist ein besonderes Jubiläumsjahr für die legendäre Schweizer Philosophin Jeanne Hersch. Am 5. Juni jährt sich ihr Todestag zum zehnten Mal, am 13. Juli sind hundert Jahre vergangen, seit sie als Kind von Exilpolen in Genf geboren wurde.
Einen Querschnitt durch das, womit sie als Philosophin überaus erfolgreich und populär war, liefert der im NZZ-Verlag erschienene Band Jeanne Hersch, «Erlebte Zeit. Menschsein im Hier und Jetzt», den Monika Weber und Annemarie Pieper herausgebracht haben. Texte der beiden Herausgeberinnen stellen da auch Jeanne Herschs Denken und Philosophieren auf überzeugende Weise dar.

Wer aber war der Mensch, der hinter diesen fulminanten Auftritten stand, wie erlebte Jeanne Hersch ganz persönlich und in ihrem Alltag das Jahrhundert, in dem sie Instanz und Ratgeberin für viele Tausende war?

Auf diese Frage will Band 27 von Reprinted by Huber eine möglichst authentische Antwort geben. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens dadurch, dass da der einzige Roman von Jeanne Hersch, «Temps alternés» von 1942, unter dem Titel «Erste Liebe» zum ersten Mal in einer – von Irma Wehrli erstellten – vollständigen deutschen Übersetzung vorgelegt wird und so das Seelendrama einer jungen Frau, die in tiefer Liebesleidenschaft zu einem wesentlich älteren Mann entbrannt ist und am Ende doch von ihm Abschied nimmt, in seiner ganzen Intensität und Tragik nachvollziehbar wird.
Und zweitens dadurch, dass im umfangreichen, reich illustrierten biographischen Nachwort von Charles Linsmayer, das sich unter dem Titel «À contre-sens de l’époque. Jeanne Hersch, ihr Roman ‹Temps alternés› und ihr einsames Leben als berühmteste Schweizer Philosophin ihrer Zeit» zur bisher ersten authentischen Jeanne-Hersch-Biographie ausgewachsen hat, nicht nur die erfolgreiche Philosophin und polemische Zeitkritikerin, sondern auch die Frau gezeichnet wird, die hinter all dem stand und die schon früh Schweres durchmachte und im Alter schrecklich unter der Einsamkeit litt. Jeanne Herschs Herkunft, ihre Schul- und Studienzeit und ihre entscheidende Begegnung mit dem deutschen Philosophen Karl Jaspers werden da ebenso dargestellt wie der Weg zum Philosophie-Star, der sein Auditorium verblüffte, aber es wird auch jene Liebesgeschichte rekonstruiert, die in «Erste Liebe» gespiegelt ist, und nicht zuletzt vermitteln die Briefe, die sie dem Schriftsteller Czeslaw Milosz schrieb, das Bild einer Jeanne Hersch, wie man sie bisher nicht kannte,  einer Jeanne Hersch, deren wirkliche Grösse erst derjenige erfassen kann, der weiss, welch schwerem Leben ihre Leistungen abgerungen sind.

 
Charles Linsmayer zusammen mit Jeanne Hersch und Greta Foeth am Genfer Salon du Livre 1991
 

 

Jeanne Hersch: «Erste Liebe»/«Temps alternés».

In der Übersetzung von Irma Wehrli neu herausgegeben und mit einem biographischen Nachwort versehen von Charles Linsmayer. Reprinted by Huber, Band 27, ca. 240 Seiten, mit zahlreichen Fotos, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-7193-1539-9
FR. 36,- /Euro 23.90

Folgende Anlässe sind in Zusammenhang mit diesem Buch geplant:

9.November 2010, 19.00: Charles Linsmayer an der Volkshochschule Aarau zum Thema: «‹Erste Liebe› – Jeanne Herschs einziger Roman»

29.November 2010. 19.00, Volkshochschule Bern, Grabenpromenade 3:
Charles Linsmayer spricht zu «Erste Liebe». Jeanne Hersch und ihr Roman «Temps alternés».

(Die Vorträge finden jeweils innerhalb eines Zyklus statt, in dem auch Monika Weber, Annemarie Piper, Hans Saner und andere zu Jeanne Hersch referieren.)

Pressestimmen

© Neue Luzerner Zeitung; 12.07.2010
Luzerner Zeitung Kultur


Zum 100. Geburtstag
Jeanne Hersch – Geständnisse im Flüsterton
Silvia Hess
Morgen wäre Philosophin Jeanne Hersch 100-jährig geworden. Ihr einziger Roman ist nun auf Deutsch erschienen. Und überraschend intim.
«Sie war eine der grössten Philosophen, die die Schweiz je hatte, auch wenn ich keine einzige Meinung mit ihr teilte.» Der das sagte, war Jean Ziegler, der sich mit Jeanne Hersch heftig und öffentlich gestritten hat. Jean und Jeanne – sie waren Parteigenossen, aber die Philosophin vertrat auch als SP-Mitglied beharrlich eigene Meinungen. Da ihr Denken auch oft quer zum Zeitgeist verlief, dazu mit beträchtlichem Kampfgetöse, wurde von ihr ein ausschliessliches Image aufrechterhalten: das Bild einer unerschrockenen und sehr gestrengen Frau. Umso mehr überrascht eine neue Facette ihres Lebens.


Zu grosse Liebe


Dass Jeanne Hersch einen Roman geschrieben hat, ist kaum bekannt. Er wurde, 1942 unter dem Titel «Temps alternés» veröffentlicht, wenig beachtet. Das gleiche Schicksal erlitt 1975 die ins Deutsche übersetzte und gekürzte Ausgabe. Nun ist, aus Anlass des 100. Geburtstags am 13. Juli, eine erste vollständige Übersetzung greifbar.
Und man staunt: «Erste Liebe», dieses Buch, ist eine Beichte, ein einziges Geständnis im Flüsterton. Ein namenloses Ich, eine junge, schwangere Frau, erzählt ihrem Mann, der Aktivdienst leistet, in Briefen die Geschichte ihrer ersten, grossen Liebe. Oder, besser gesagt: der zu grossen Liebe.


Ausserhalb der Ordnung


Denn was der 17-jährigen Gymnasiastin widerfuhr, trug sich ausserhalb der Gesetze alltäglicher Ordnungen zu. Nach der ersten Begegnung während einer Wanderung bleibt die Zeit stehen. Das Gras, vom Winter noch gelblich, wird nie wieder grünen, der Himmel wird seine blaugraue Farbe behalten, und der Fluss wird träge bleiben. Pierres Gesicht, von Anfang an verwischt, wird keine Konturen bekommen, aber das funkelnde Blau seiner Augen versetzt die Schülerin fortan in Rauschzustände. Es fallen kaum Worte zwischen den beiden, und es gibt, ausser einer Umarmung ganz zuletzt, keine Berührungen. Ihre Verabredungen geschehen wortlos. Sie hat Angst davor, das «Wunder» mit der Sprache zu zerstören, weil sie weiss, «… dass es genügte, die Hand nach ihm auszustrecken und es besitzen zu wollen, damit es verschwand».


Grenzenloses Begehren


Jeanne Hersch zelebriert ein erregtes Begehren, das in seiner Entgrenzung an Ingeborg Bachmanns Liebeshymnen denken lässt. Aber da, wo Bachmann für das nicht mehr Sagbare die Musik einsetzt, breitet Hersch einen dichten, mit Naturmetaphern geknüpften Wortteppich aus. Die Briefe, die die junge Frau an ihren Mann schickt, wiegen schwer vom Gewicht der Berge, Flüsse und Stürme. Es sind Chiffren für ihr Innenleben, für das nicht Fassbare und Beängstigende. Wie Marc, der Adressat, auf die Briefe reagiert, wird nicht erzählt. Es geht auch nicht um Pierre. Beide Männerfiguren stehen sehr blass im Hintergrund. Es geht um die junge Frau – und es geht um Jeanne Hersch.
Im zweiten Teil des Buches verweist Charles Linsmayer in seiner reich bebilderten Biografie auf Parallelen Jeanne Herschs mit ihrer Romanfigur. Es gab eine Liebe, der sie immer wieder zu entfliehen versuchte (als Lehrerin bis nach Chile und Thailand), der sie aber nicht ausweichen konnte. André Oltramare (wie Pierre um viele Jahre älter), Genfer Erziehungsdirektor und verheiratet, war ein Mann, der sie stark anzog. 1941 tat er den Schritt, verliess seine Familie und zog mit Jeanne Hersch zusammen. Sechs Jahre später starb er in ihren Armen an einem Herzinfarkt.


Die grosse Angst


Mit ihrem Roman trug Hersch nach aussen, was in ihr drin gekämpft haben muss: die rationale Seite der brillanten Denkerin gegen die Schutzlosigkeit der über alle Massen Liebenden. 1999, ein Jahr vor ihrem Tod, antwortete die 89-Jährige auf die Frage, wovor sie am meisten Angst habe: «Vor der Einsamkeit, oh ja, vor der Einsamkeit, auch jetzt noch!» Die Sehnsucht nach den Menschen und nach dem Menschen hat Jeanne Hersch bis zuletzt nicht verlassen.


© NZZ am Sonntag; 11.07.2010; Ausgaben-Nr. 28; Seite 54
Kultur (ku)


Eine junge Frau gesteht ihre Passion für einen viel älteren Mann
Papst M. (pap)
Zum 100. Geburtstag der Genfer Philosophin Jeanne Hersch ist ihr Roman «Erste Liebe» neu übersetzt und ediert worden. Ein Fund. Von Manfred Papst
Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch (1910–2000), die am 13. Juli 100 Jahre alt geworden wäre, ist uns Heutigen vor allem durch ihre wertkonservativen und bisweilen etwas tantenhaften Einwürfe zu Zeitthemen wie Autorität, Jugendpolitik und Drogen erinnerlich. Es wäre jedoch falsch, sie auf die Rolle der moralisierenden alten Dame, als die sie zum Feindbild der Achtundsechziger wurde, zu reduzieren.
Die Tochter polnisch-jüdischer Intellektueller wurde, nachdem sie zwei Jahrzehnte lang als Gymnasiallehrerin gearbeitet und daneben ihre akademische Karriere weiter vorangetrieben hatte, 1956 zur ersten Philosophieprofessorin der Schweiz. Als solche wirkte sie vor allem vermittelnd. Sie entwickelte kein eigenes Denksystem, sondern vertrat die Existenzphilosophie ihres bewunderten Lehrers Karl Jaspers, den sie mit ihren Übersetzungen in Frankreich bekanntmachte. Im Übrigen lag ihr daran, mit vielerlei Vorträgen zu Fragen der gefährdeten Freiheit des Menschen über universitäre Kreise hinaus zu wirken. Das gelang ihr, weil sie verständlich und klar zu sprechen verstand – meist ohne Manuskript.
Ein Solitär in Jeanne Herschs Werk ist ihr früher Liebesroman «Temps alternés». Als er 1942 erstmals erschien, blieb er so gut wie unbeachtet. Erst als der Verleger Peter Keckeis ihn 1975 bei Huber unter dem Titel «Begegnung» auf Deutsch herausbrachte, wurde er bei Publikum und Kritik ein Erfolg. Die gegenüber dem Original um 15 Prozent gekürzte Huber-Ausgabe verschwieg indes, dass es sich um ein 33 Jahre altes Werk handelte, und die wenigsten merkten es. Auch dass es einen biografischen Hintergrund hatte, blieb unbekannt oder unerwähnt. Doch der Roman wurde über den Umweg der deutschen Ausgabe auch in der Originalsprache zum Erfolg: 1976 erschien eine französische Neuausgabe.
Nun hat Charles Linsmayer das Werk in der von ihm betreuten Reihe «Reprinted by Huber» abermals herausgebracht – neu und erstmals vollständig übersetzt von Irma Wehrli. Vor allem aber hat er den schmalen, in seiner Unmittelbarkeit und Schlichtheit nach wie vor berührenden Roman um ein fast hundertseitiges, akribisch recherchiertes Nachwort ergänzt, in dem er Jeanne Herschs Leben erstmals in einiger Ausführlichkeit darstellt und auch die biografischen Hintergründe ihres Romans ausleuchtet.
Er zeigt, dass Jeanne Hersch im Grunde ihre eigene Geschichte erzählt, wenn sie von der ersten Liebe einer jungen Frau zu einem wesentlich älteren Mann spricht – und von einer Passion, die ihre Protagonistin auch nach der Trennung von ihrem Geliebten weiter beherrscht: Jeanne Hersch war von 1932 an mit dem 26 Jahre älteren, verheirateten Genfer Professor André Oltramare liiert. Nach dessen Tod 1947 hat sie sich nie mehr gebunden.
Linsmayers Ermittlungen sind exakt, vorsichtig, nie voyeuristisch und umso verdienstvoller, als die Quellenlage wenig ermutigend war: Jeanne Herschs persönliche Korrespondenz ist nach ihrem Tod fast vollständig vernichtet worden. Einzige Ausnahme ist der höchst ergiebige Briefwechsel mit dem polnischen Autor Czeslaw Milosz. Seine Briefe an sie liegen im 26 Laufmeter umfassenden schriftlichen Hersch-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich und sind gesperrt; ihre Briefe an ihn aber werden in Yale aufbewahrt und konnten von Linsmayer ausgewertet werden. Manchmal muss man als Editor auch ein bisschen Glück haben.
Jeanne Hersch: Erste Liebe. Roman. Aus dem Französischen von Irma Wehrli. Biografisches Nachwort von Charles Linsmayer. Reihe «Reprinted by Huber», Band 27, Frauenfeld 2010. 240 S., 30 Abb., Fr. 39.90.


Jeanne Hersch als Heidelberger Studentin im Jahr 1929 auf einem Ausflug.


NZZ, 10.Juli 10, Abspann zum Nachdruck von Jeanne Herschs Essay «Das Gemeinwesen, das sich seinen Bürgern nicht aufdrängt»
Werke und Leben
Uwe Justus Wenzel


Wer deutsche Ausgaben von Jeanne Herschs Schriften aufschlagen möchte, sollte den Weg in die Bibliothek nicht scheuen oder aber im online zugänglichen Verzeichnis antiquarischer Bücher stöbern (www.zvab.com). Im regulären Buchhandel werden im Jahr des hundertsten Geburtstags der ersten bestallten Schweizer Philosophieprofessorin nämlich nur zwei Titel feilgehalten: der bei NZZ Libro erschienene Sammelband «Erlebte Zeit», dem der auf dieser Seite abgedruckte Essay entstammt, sowie die Neuausgabe der Übersetzung eines Romans, «Temps alternés», den Hersch 1942 veröffentlicht hat. Charles Linsmayer hat das von Irma Wehrli behutsam aus dem Französischen übertragene Prosawerk im Verlag Huber unter dem Titel «Erste Liebe» ediert und mit einer biografischen Skizze versehen.
Wer sich für die «andere» Seite einer Philosophin interessiert, die der begründbaren Ansicht war, ihre Privatsphäre gehe andere nichts an, wird in Linsmayers neunzigseitigem «Nachwort» die Linien eines Lebens nachgezeichnet finden, das anscheinend nicht gänzlich ereignisarm war. Nach des Biografen Einschätzung darf das belletristische Werk von 1942 als Widerschein einer Liebesbeziehung Herschs zu dem wesentlich älteren und verheirateten Genfer SP-Politiker und Altphilologen André Oltramare gelesen werden, die anderthalb Jahrzehnte, bis zu Oltramares Tod 1947, währte. Der Briefroman, der zart und klar die Seelenlandschaft einer schwangeren Frau aquarelliert, die ihrem Mann von ihrer ersten und grossen Liebe erzählt, erinnert durchaus an frühe Bücher von Simone de Beauvoir oder auch Marguerite Duras.
Aber Charles Linsmayer verengt Leben und Denken der Genfer Philosophin, die zeitlebens Pädagogin blieb und die Politikerin hätte werden können, erfreulicherweise nicht auf diese wie auch immer schicksalhafte Liebesgeschichte und das ihr entsprossene «Schlüsselwerk».

 

© Der Bund; 10.07.2010; Seite 39
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Der kleine Bund
Aus Angst geborene Philosophin


Nimmt man ihre Erfahrungen ebenso ernst wie ihre Bücher, so erscheint das Denken von Jeanne Hersch, die am 13. Juli vor 100 Jahren geboren wurde, als lebenslange Abwehr gegen die universelle Bedrohung der Welt.


Charles Linsmayer
«Seitdem ist, weit über mein eigenes Leben hinaus, alles, was ich liebe, bedroht.» Den Satz schrieb Jeanne Hersch 1953, und «seitdem» meint seit der Machtübernahme der Nazis, die sie 1933 in Freiburg in Breisgau als Studentin hautnah erlebte. Aber es gab nicht nur diese Bedrohung in ihrem Leben, es gab auch jene, die vom Kommunismus ausging und die die Tochter polnischer Emigranten nicht erst im Kalten Krieg, sondern von Kind auf fürchten gelernt hatte.
Dazu kam die aus nächster Nähe erlebte Bedrohung im eigenen Land, war Jeanne Hersch, die Jüdin war, doch zehn Jahre heimlich und sechs Jahre offiziell mit André Oltramare liiert, dem Bruder jenes Georges Oltramare, der als Genfer Frontistenführer von einer faschistischen Schweiz träumte. Die Affäre mit André Oltramare machte ihr in ihrem jahrelangen qualvollen Hin und Her aber auch klar, wie chaotisch unzuverlässig die menschliche Seele ist und wie dringend sie der Autorität bzw. der Erziehung bedarf. «Ob der moderne Philosoph will oder nicht, er steht in dauerndem Kampf um die Freiheit», meinte sie 1974, und letztlich war alles, was sie als Philosophin sagte, aus Angst geboren – aus Angst vor dem Verlust der inneren oder äusseren Freiheit.


Karl Jaspers als Vorbild
Am 13. Juli 1910 in Genf zur Welt gekommen, konnte die von ihren Eltern optimal geförderte junge Polin – die Familie erwarb erst 1931 das Genfer Bürgerrecht – mit drei Jahren lesen, machte mit 18 die Matura, mit 21 das Staatsexamen und hätte ihr Leben wohl als Latein- und Französischlehrerin beendet, wenn sie 1929 in Heidelberg nicht mit Karl Jaspers und dessen Lehre in Kontakt gekommen wäre, die ihr fortan Herausforderung und Vorbild blieb. «Die Freiheit individueller Selbstverwirklichung» wurde auch ihr Anliegen, aber obwohl sie fast sein ganzes Werk ins Französische übertrug, führte sie Jaspers’ Denken nicht fort, sondern setzte es in Praxis um. «Es gibt keine Wahrheit, ausser ich engagiere mich dafür» hiess die Losung, und aus dieser Haltung heraus tendierten ihre Publikationen bald schon in Richtung Politologie.
Mit «L’illusion philosophique» vermittelte sie Frankreich 1936 Jaspers’ Denken, indem sie alle Philosophien vor ihm für überlebt erklärte und die seine als Evokation des Nichts an den Anfang einer neuen Freiheit stellte. Ihre Doktorarbeit «L’être et la forme» von 1946 las Nobelpreisträger Czeslaw Milosz als einen «energischen Appell, sich nicht der Versuchung des Traums zu ergeben, der uns in Richtung des Vagen, Unscharfen, Unwirklichen zieht». Der Band «Idéologies et réalité» von 1956 stiess als dezidierte Absage an jede Form von Ideologie im Kalten Krieg auf breite Zustimmung, während ihr populärstes Buch, «L’étonnement philosophique», 1981 dazu einlud, «das schöpferische Staunen der grossen Philosophen denkend nachzuvollziehen», den Lesern aber keinerlei Textverständnis zumutete, sondern die Denker der Welt auf erzählerisch-biografische Weise als «Anfänger» und «Staunende» hinstellte.


Als Ehebrecherin stigmatisiert


So kurzweilig sich der Mix aus Philosophie und Biografie liest: Jeanne Hersch frönte damit einer Methode, gegen die sie sich im Hinblick auf sich selbst entschieden verwahrte und die sie auch für ihre postume Rezeption zu verhindern suchte, indem sie den privaten Teil ihres Nachlasses verbrennen liess. Dabei kann gerade ihre aus Angst geborene Philosophie erst wirklich verstehen, wer ihr persönliches Schicksal dazu in Beziehung setzt.
Die Liaison mit Oltramare stigmatisierte sie im calvinistischen Genf auf traumatische Weise zur Ehebrecherin, als er 1941 die Familie verliess und mit ihr im Konkubinat lebte. Und aus dem bis 1998 geführten, in Yale archivierten Briefwechsel zwischen ihr und Czeslaw Milosz, mit dem sie 1951 in Paris eine kurze Romanze erlebt hatte, tritt einem eine sich vergeblich nach Geborgenheit sehnende Frau entgegen, die bei allem äusseren Erfolg ein einsames, verbittertes Leben führte.


Verzweifelte Liebeserklärung


Die Liebe zu Oltramare hat aber auch Jeanne Herschs schönstes, berührendstes Buch hervorgebracht: den Roman «Temps alternés»/«Erste Liebe» von 1942, wo eine junge Frau voller Wehmut von ihrer Liebe zum wesentlich älteren Pierre erzählt, die aus Vernunftgründen zu Ende ging, obwohl sie nie einen Mann leidenschaftlicher würde lieben können als ihn. Pierre ist das Abbild von Oltramare, der 26 Jahre älter als Jeanne Hersch war und sich zehn Jahre durch nichts dazu bringen liess, Frau und Familie zu verlassen. Auf ihn muss der Roman, den er 1941 als Typoskript gelesen haben dürfte, wie eine letzte verzweifelte Liebeserklärung gewirkt haben, gab er sein Zögern doch kurz danach auf.
Als der Roman 1974 erstmals deutsch erschien, zweifelte kein Mensch an Jeanne Herschs Erklärung, er behandle anhand einer erfundenen Liebe eine philosophische Frage. Denn im Grunde traute der Autorin, die sich inzwischen zur eisernen Lady der Schweizer Philosophie gemausert hatte, schlicht niemand eine chaotische Liaison wie die im Roman gespiegelte zu.


Reizfigur für rebellierende Jugend


In Hunderten von Veranstaltungen trat die mit ihrem streng nach hinten gekämmten Haar wie eine polnische Bäuerin wirkende kleine Frau vor ihr Publikum, entwickelte, wenn sie nicht von ihrem Lieblingsthema, den Menschenrechten, sprach, in ihrem charmanten, französisch gefärbten Deutsch auf eloquente Weise Thesen, die, obwohl sie sich als Sozialistin verstand, durchwegs konservativer Natur waren: für eine starke Armee, für eine autoritäre Schule, für die Atomkraftwerke, gegen die Freigabe von Drogen und gegen all das, was die Jugend 1968 und 1980 gewollt hatte. Positionen, in denen auch heute noch viele ein mutiges Einzelkämpfertum sehen, obwohl sie im Grunde nur der schweigenden Mehrheit eine Stimme gaben. Welch letztere ihr begeistert zujubelte, während die aufmüpfige Jugend oft nur durch die Polizei gehindert werden konnte, das Rednerpult zu stürmen. Eine Reaktion, die auf höherem Niveau und mit den Worten von Ruth Dreifuss auch heissen konnte: «Es gibt nichts Schöneres, als die eigenen Ideen an einem so starken Stein zu schleifen.»
Jeanne Hersch, die am 5. Juni 2000 starb, hat sich in ihrer Zeit so resolut engagiert, dass die inzwischen eingetretenen Veränderungen ihr Denken – es sei denn, man erklärt den Rückschritt zum Trend und sie selbst zu dessen Vorreiterin – endgültig als überholt erscheinen lassen. Im Sinne von Kierkegaard, für den «der Geist sich zu sich selbst und zu seiner Bedingung als Angst verhält», war Jeanne Hersch mit ihrer aus Angst geborenen Philosophie aber durchaus Existenzialistin und bestätigte das auch noch in ihrem letzten Text: Im Kommentar zu Guiseppe Verdis Requiem für das KKL Luzern ersetzte sie Kierkegaards biblische Höllendrohung 1999 durch die für ihr Denken so bedeutsame «universelle Bedrohung der Welt».
Als Denkerin «in dauerndem Kampf um die Freiheit»: Jeanne Hersch in ihrem Garten in Genf, 1999. Foto: Philippe Krauer (Keystone)


Jeanne Hersch
Eine biografische Annäherung


Alexander Sury
Es ist eine Pionierleistung: Hinter der trockenen, bei ihren Auftritten streng wirkenden Philosophin mit dem Habitus einer Eisernen Lady hat der Publizist, Herausgeber und «Bund»-Autor Charles Linsmayer dank akribischer Recherchen «einen Menschen aus Fleisch und But» entdeckt. Sein ausführliches, die Hintergründe ihres einzigen (Schlüssel-)Romans subtil ausleuchtendes biografisches Nachwort ist Jeanne Herschs Buch «Erste Liebe» («Temps alternés») angefügt. Die biografische Annäherung entstand aus der Erkenntnis, dass der Roman aus dem Jahr 1942 in Jeanne Herschs Leben bislang etwas Unbegreifliches, kaum Einzuordnendes darstellte. Aus Anlass des 100. Geburtstages von Jeanne Hersch ist erstmals die ungekürzte deutsche Fassung (Neuübersetzung: Irma Wehrli) als Band 27 in der Reihe «Reprinted by Huber» erschienen. Seit 1987 macht Charles Linsmayer unter diesem Label bedeutende Werke der Schweizer Literatur aus allen vier Sprach- und Kulturkreisen (u. a. von Annemarie Schwarzenbach, S. Corinna Bille, Alice Rivaz oder Hugo Marti) neu zugänglich. Ebenfalls aus Anlass des Jubiläumsjahres hat der NZZ-Verlag das von Alt-Ständerätin Monika Weber und der emeritierten Basler Philosophieprofessorin Annemarie Pieper herausgegebene Buch «Jeanne Hersch – Erlebte Zeit» veröffentlicht. Erstmals publizierte Texte aus dem Nachlass von Jeanne Hersch werden ergänzt von einem Rückblick Monika Webers aus der Perspektive der ehemaligen Studentin sowie einer Würdigung Herschs als Philosophin durch Annemarie Pieper. (Alexander Sury)

© Tages-Anzeiger; 10.07.2010; Seite 39ges
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GES Kultur_Ges
«Es gibt keine Wahrheit, ausser ich engagiere mich dafür»


Die vor 100 Jahren in Genf geborene Philosophin Jeanne Hersch setzte Jaspers Denken in die Praxis um.
Von Charles Linsmayer*
«Seitdem ist, weit über mein eigenes Leben hinaus, alles, was ich liebe, bedroht.» Diesen Satz schrieb Jeanne Hersch 1953, und «seitdem» meint: seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die sie 1933 als Studentin in Freiburg im Breisgau hautnah erlebte. Aber es gab nicht nur diese Bedrohung in ihrem Leben, es gab auch jene, die vom Kommunismus ausging und die die Tochter polnischer Emigranten nicht erst im Kalten Krieg, sondern von Kindesbeinen an fürchten gelernt hatte.
Dazu kam die aus nächster Nähe erlebte Bedrohung im eigenen Land, war Jeanne Hersch, die Jüdin, doch 10 Jahre heimlich und 6 Jahre offiziell mit André, dem Bruder Georges Oltramares, liiert, der als Genfer Frontistenführer von einer faschistischen Schweiz träumte. Die Affäre mit André Oltramare machte ihr in ihrem jahrelangen qualvollen Hin und Her aber auch klar, wie chaotisch und unzuverlässig die menschliche Seele ist und wie dringend sie der Autorität beziehungsweise der Erziehung bedarf. «Ob der moderne Philosoph will oder nicht, er steht in dauerndem Kampf um die Freiheit», sagte sie 1974, und letztlich war alles, was sie als Philosophin sagte, aus Angst geboren – aus Angst vor dem Verlust der inneren oder äusseren Freiheit.


Mit 3 Jahren konnte sie lesen


Am 13. Juli 1910 in Genf zur Welt gekommen, konnte die von ihren Eltern optimal geförderte junge Polin – die Familie erwarb erst 1931 das Genfer Bürgerrecht – mit 3 Jahren lesen, machte mit 18 die Matura, mit 21 das Staatsexamen und hätte ihr Leben wohl als Latein- und Französischlehrerin beendet, wenn sie 1929 in Heidelberg nicht mit Karl Jaspers und dessen Lehre in Kontakt gekommen wäre, die ihr fortan Herausforderung und Vorbild blieb. «Die Freiheit individueller Selbstverwirklichung» wurde auch ihr Anliegen, aber obwohl sie fast sein ganzes Werk ins Französische übertrug, führte sie Jaspers’ Denken nicht fort, sondern setzte es in die Praxis um. «Es gibt keine Wahrheit, ausser ich engagiere mich dafür» hiess die Losung, und aus dieser Haltung heraus tendierten ihre Publikationen stets ins Politische.
Mit «L’illusion philosophique» vermittelte sie Frankreich 1936 Jaspers’ Denken, indem sie alle Philosophien vor ihm für überlebt erklärte und die Seine als Evokation des Nichts an den Anfang einer neuen Freiheit stellte. Ihre Doktorarbeit «L’être et la forme» von 1946 las Nobelpreisträger Czeslaw Milosz als einen «energischen Appell, sich nicht der Versuchung des Traums zu ergeben, der uns in Richtung des Vagen, Unscharfen, Unwirklichen zieht». Der Band «Idéologies et réalités» von 1956 stiess als dezidierte Absage an jede Form von Ideologie im Kalten Krieg auf breite Zustimmung, während ihr populärstes Buch, «L’étonnement philosophique», 1981 dazu einlud, «das schöpferische Staunen der grossen Philosophen denkend nachzuvollziehen», den Lesern aber keinerlei Textverständnis zumutete, sondern die Denker der Welt auf erzählerisch-biografische Weise als «Anfänger» und «Staunende» hinstellte.
So kurzweilig sich der Mix aus Philosophie und Biografie liest: Jeanne Hersch frönte damit einer Methode, gegen die sie sich im Hinblick auf sich selbst entschieden verwahrte und die sie auch für ihre postume Rezeption zu verhindern suchte, indem sie den privaten Teil ihres Nachlasses verbrennen liess. Dabei kann gerade ihre aus Angst geborene Philosophie erst wirklich verstehen, wer ihr persönliches Schicksal dazu in Beziehung setzt.
Die Liaison mit Oltramare stigmatisierte sie im calvinistischen Genf auf traumatische Weise zur Ehebrecherin, als er 1941 die Familie verliess und mit ihr im Konkubinat lebte. Und aus dem bis 1998 geführten, in Yale archivierten Briefwechsel zwischen ihr und Czeslaw Milosz, mit dem sie 1951 in Paris eine kurze Romanze erlebt hatte, tritt einem eine sich vergeblich nach Geborgenheit sehnende Frau entgegen, die bei allem äusseren Erfolg ein einsames, ein verbittertes Leben führte.
Die Liebe zu Oltramare hat aber auch Jeanne Herschs schönstes, berührendstes Buch hervorgebracht: den Roman «Temps alternés»/«Erste Liebe» von 1942, wo eine junge Frau voller Wehmut von ihrer Liebe zu dem wesentlich älteren Pierre erzählt, die aus Vernunftgründen zu Ende ging, obwohl sie nie einen Mann leidenschaftlicher würde lieben können als ihn. Pierre ist das Abbild von Oltramare, der 26 Jahre älter als Jeanne Hersch war und sich 10 Jahre durch nichts dazu bringen liess, Frau und Familie zu verlassen. Auf ihn muss der Roman, den er 1941 als Typoskript gelesen haben dürfte, wie eine letzte verzweifelte Liebeserklärung gewirkt haben, gab er sein Zögern doch kurz danach auf.
Als der Roman 1974 erstmals in deutscher Sprache erschien, zweifelte niemand an Jeanne Herschs Erklärung, er behandle anhand einer erfundenen Liebe eine philosophische Frage. Denn im Grunde traute der Autorin, die sich inzwischen zur eisernen Lady der Schweizer Philosophie gemausert hatte, schlicht niemand eine chaotische Liaison wie jene im Roman zu.


Reizfigur für Jugendrebellen


In Hunderten von Veranstaltungen trat die mit ihrem streng nach hinten gekämmten Haar wie eine polnische Bäuerin wirkende kleine Frau vor ihr Publikum, entwickelte, wenn sie nicht von ihrem Lieblingsthema, den Menschenrechten, sprach, in ihrem charmanten, französisch gefärbten Deutsch auf eloquente Weise Thesen, die, obwohl sie sich als Sozialistin verstand, durchwegs konservativer Natur waren: für eine starke Armee, für eine autoritäre Schule, für die Atomkraftwerke, gegen die Freigabe von Drogen und gegen all das, was die Jugend 1968 und 1980 gewollt hatte. Positionen, in denen auch heute noch viele ein mutiges Einzelkämpfertum sehen, obwohl sie im Grunde nur der schweigenden Mehrheit eine Stimme gaben. Während viele ihr zustimmten, konnte die aufmüpfige Jugend oft nur durch die Polizei gehindert werden, das Rednerpult zu stürmen. Eine Reaktion, die auf höherem Niveau und mit den Worten von Ruth Dreifuss auch heissen konnte: «Es gibt nichts Schöneres, als die eigenen Ideen an einem so starken Stein zu schleifen.»
Jeanne Hersch, die am 5. Juni 2000 starb, hat sich in ihrer Zeit so engagiert, dass die inzwischen eingetretenen Veränderungen ihr Denken – es sei denn, man erklärt den Rückschritt zum Trend und sie selbst zu dessen Vorreiterin – stark relativieren. Im Sinne von Kierkegaard, für den «der Geist sich zu sich selbst und zu seiner Bedingung als Angst verhält», war Hersch mit ihrer aus Angst geborenen Philosophie aber durchaus Existenzialistin und bestätigte das auch noch in ihrem letzten Text: Im Kommentar zu Giuseppe Verdis Requiem für das KKL Luzern ersetzte sie Kierkegaards biblische Höllendrohung 1999 durch die für ihr Denken bedeutsame «universelle Bedrohung der Welt».
* Charles Linsmayer hat ein biografisches Nachwort zu Jeanne Herschs Schlüsselroman «Erste Liebe» («Temps alternés») verfasst. Das Buch ist anlässlich des Jubiläums in der Reihe «Reprinted by Huber» erschienen. Ebenfalls neu ist das von Alt-Ständerätin Monika Weber und Annemarie Pieper herausgegebene Buch «Jeanne Hersch. Erlebte Zeit» im NZZ-Verlag.

© Der Landbote; 13.07.2010; Seite 13
Leben
Schwimmerin gegen den Strom
sda


Heute vor hundert Jahren wurde Jeanne Hersch in Genf geboren. Die Philosophin, die seit den 1970er-Jahren auch in der Deutschschweiz ein «Superstar» ihres Fachs war, wird unter anderem mit einer Briefmarke gewürdigt.
GENF – Die 1-Franken-Marke wird an Herschs Geburtstag in Zürich enthüllt und ist ab 3. September erhältlich. Ebenfalls in Zürich wird am 17. August in der Zentralbibliothek eine Ausstellung über Hersch eröffnet. Daneben gibt es unter anderem Vortragszyklen an den Volkshochschulen Basel, Bern und Aarau.
Das Denken von Jeanne Hersch eignet sich ganz besonders für Nicht- Akademiker: Eine ihrer imponierendsten Leistungen sei gewesen, dass sie neben den grossen Sinnfragen Alltagsbereiche wie Staunen, Angst und Freude philosophisch einem grossen Publikum nähergebracht habe, sagte Berufskollegin Annemarie Pieper nach Herschs Tod im Juni 2000.
Essaysammlungen wie «Die Unfähigkeit, Freiheit zu ertragen» (1974) und «Die Hoffnung, Mensch zu sein» (1976) sowie ihre Philosophiegeschichte «Das philosophische Staunen» (1981) waren sogar Bestseller.


Amour fou


Gerade ist Jeanne Herschs einziger Roman «Temps alternés» unter dem Titel «Erste Liebe» auf Deutsch neu erschienen. Dem Text ist eine knapp hundertseitige Biografie von Charles Linsmayer angefügt. Herausgeber Linsmayer zeichnet als Erster nicht nur das akademische und politische, sondern auch das private Leben von Hersch nach. Unter anderem geht er der Frage nach, ob sich in dem Roman der ledig gebliebenen Philosophin wahre Begebenheiten spiegeln.
Man erfährt von einer jahrzehntelangen «amour fou» zu einem verheirateten, viel älteren Mann. Mit 28 Jahren versuchte die damalige Gymnasiallehrerin, dieser Verstrickung zu entfliehen, indem sie sich als Erzieherin für den heutigen König Bhumibol von Thailand anstellen liess.


Diskussionsfreudige Eltern


Jeanne Hersch wurde am 13. Juli 1910 in Genf geboren. Ihre Eltern, osteuropäische Intellektuelle jüdischer Abstammung, waren «Bundisten», die nach sozialer Gerechtigkeit, demokratischer Freiheit und internationaler Solidarität strebten und eine diskussionsfreudige Atmosphäre pflegten. Jeanne Hersch studierte deutsche Literatur, hörte die Philosophen Karl Jaspers in Heidelberg und Martin Heidegger in Freiburg und arbeitete nach dem Abschluss zunächst als Gymnasiallehrerin. 1956 bis 1977 war sie Professorin für systematische Philosophie an der Universität Genf.
Von 1966 bis 1968 leitete sie die Abteilung für Philosophie der Unesco in Paris und vertrat danach die Schweiz im Unesco-Exekutivrat. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so 1973 den Preis der Fondation pour les droits de l’homme, 1979 den Montaigne-Preis, 1992 den Karl-Jaspers-Preis sowie Ehrendoktorwürden mehrerer Universitäten.


Widerborstig


Die «Jaspers-Schülerin», als die sie immer wieder bezeichnet wird, war Jeanne Hersch strenggenommen nicht, da sie nur zwei Semester bei dem deutschen Existenzphilosophen studiert hatte. Ihre «Gefolgschaft» gründete vielmehr auf einer genuinen Verwandtschaft ihres Denkens mit dem von Jaspers. Zu ihren Devisen gehörte, bei allem immer auch das Gegenteil zu bedenken. Seit 1939 SP-Mitglied, überwarf sie sich deshalb immer wieder mit Parteikollegen, etwa indem sie für Armee und Kernenergie votierte. Für ihre umstrittenen «Antithesen» zu den Jugendunruhen von 1980 erhielt sie sogar einen Dankesbrief von Christoph Blocher.lIRENE WIDMER (sda)
Buchtipps
Jeanne Hersch: Erste Liebe. Roman. Deutsch von Irma Wehrli-Rudin. Huber-Verlag, Frauenfeld 2010. 238 Seiten, Fr. 40.–. Monika Weber und Annemarie Pieper: Erlebte Zeit. Menschsein im Hier und Jetzt. Verlag NZZ Libro, Zürich 2010. 252 Seiten, Fr. 38.–.