Yvette Z’Graggen 1920–2012

«Als ich klein war, haben meine Eltern Hochdeutsch gesprochen, meine Mutter in Erinnerung an ihren Wiener Vater, mein Vater, weil er es seinem Glarner Dialekt vorzog. Dann aber, weil sie definitiv in Genf leben wollten, sind sie zum Französischen übergegangen.» Yvette Z’Graggen, geboren am 21. März 1920 in Genf, wo sie am 16. April 2012 auch starb, hat sich nicht nur ein Leben lang auf vielfältige Weise mit der deutschen Schweiz auseinandergesetzt, sie war mit ihren Büchern hierzulande auch eine der beliebtesten Welschschweizer Autorinnen. Mit sechs Jahren erfand sie in ihren frühesten Texten eine Mimi und eine Noémie, die Dinge tun durften, die ihr verboten waren. Mit sechzehn verliebte sie sich in die deutsche Sprache und übte sich darin mit Geschichten von Liebe und Tod. Als Maturandin verfasste sie, nun wieder in Französisch, 1939 ihren nie veröffentlichten Roman «L’appel du rêve» («Der Ruf des Traums»), ehe sie 1944 dann als Mitarbeiterin des Roten Kreuzes mit «La vie attendait» («Das Leben wartete») ihren ersten tatsächlichen Erfolg als Gestalterin von freien, unabhängigen Frauenfiguren errang. Es folgen 1950 und 1959 weitere Romane, ihre grosse Zeit als Erzählerin brach aber an, als sie nach Jahren als Radiojournalistin und im Nachgang zu einer späten Mutterschaft begann, die Geschichte ihrer Familie und damit auch jene der jüngeren Schweiz literarisch aufzuarbeiten. «Un temps de colère et d’amour» («Zeit der Liebe, Zeit des Zorns») beschrieb 1980 in Tagebuchform die Jahre 1939 bis 1945 im verschonten Land. «Les années silencieuses» («Die Jahre des Schweigens») befassten sich 1982 mit der Flüchtlingspolitik der Kriegsjahre und der Scham jener, die deren Defizite nicht erkannt hatten, während «Changer l’oubli» («Heimkehr ins Vergessene») einer erzählerischen Rückkehr nach Glarus, dem Kindheitsland des Vaters, gleichkam. Nach der Evokation zweier Frauenschicksale («Cornelia», 1985; «La Punta»,1992) wandte sie sich in «Matthias Berg» (1995) und «Ciel d’Allemagne» («Deutschlands Himmel», 1996) Deutschland und den ambivalenten Gefühlen zu, die ihre Generation dem Land gegenüber hegte. 2003 publizierte sie ihr berührendes Buch über das Alter «Un étang sous la glace» («Weiher unter Eis»), 2007 die knappen Erinnerungsskizzen «Éclats de vie» («Lebenssplitter») und 2011 «Juste avant la pluie» («Gerade vor dem Regen»), ihr stillstes Buch, in dem sie von ihren Frauenfiguren, aber auch vom Leben Abschied nahm. Wer ihre Bedeutung auf die eigenen Bücher reduzieren wollte, würde allerdings auf den energischen Widerstand der Frau stossen, die ihr Leben jahrelang einer Gehbehinderung abtrotzte. Es darf nicht unterschlagen werden, was sie als Lektorin der Éditions de l’Aire und als Radio-Rezensentin für die Literatur der Romandie und der Deutschschweiz geleistet hat. Sie war eine echte Brückenbauerin, und nicht zuletzt setzte sie ihr Können auch für die Übersetzung von Giorgio Orellis Gedichten, Annemarie Schwarzenbachs «Das glückliche Tal» oder Max Frischs «Schweiz ohne Armee?» ein. Yvette Z’Graggen, deren Vorfahren aus Uri stammten, war in der ganzen Schweiz zu Hause. Ihre Seelenheimat aber war die Gegend um den Genfersee, mit dem sie so viele Erinnerungen verbanden, dass sie nicht vor die Türe gehen musste, um ihn zu sehen: «Ich schliesse die Augen, und er ist da, in seinem unwandelbaren Glanz.»