Laure Wyss 1913–2002

Wenn es im 20. Jahrhundert jemanden gab, der über alle Partei- und Altersgrenzen hinweg verkörperte, was an Wenn es im 20. Jahrhundert jemanden gab, der über alle Partei- und Altersgrenzen hinweg verkörperte, was an aufgeklärtem Geist, Zivilcourage, Integrität und Charakter in diesem Land erstrebenswert ist; wenn es jemanden gab, der für jene bessere, zukunftsfähige Schweiz stand, von der heute so viele träumen - eine Schweiz ohne Repression, Kleinlichkeit und Bigotterie, eine Schweiz mit einem freien, offenen Blick nach vorn -, dann war es die Journalistin und Schriftstellerin Laure Wyss, geboren am 20. Juni 1913 in Biel, vor 15 Jahren gestorben, am 21. August 2002, in Zürich. Auf Wunsch des Vaters sollte sie Juristin werden, studierte dann aber in Paris, Berlin und Zürich Romanistik und Germanistik und schloss als Sekundarlehrerin ab, weil sie dem deutschen Architekten, den sie 1937 geheiratet hatte, ins schwedische Exil folgen wollte. In Paris schon hatte Laure Wyss die ganze "Marseillaise" auswendig singen gelernt, und als sie 1942 aus Schweden zurückkehrte, war sie leidenschaftliche Antifaschistin. Bei Jules Ferdmanns "Davoser Revue" lernte sie das journalistische Metier, 1945, nach der Scheidung von ihrem Mann, arbeitete sie beim Evangelischen Pressedienst in Zürich, 1948 ging sie als Dienstmädchen nach England, wo sie 1949 als ledige Mutter ihren Sohn zur Welt brachte. 1950 wurde sie Redaktorin beim "Luzerner Tagblatt", 1958 beim Schweizer Fernsehen, 1962 schliesslich beim "Tages-Anzeiger", wo sie ab 1970 als intellektueller Kopf des "Magazins" in Sachen engagiertem Journalismus für Generationen zum Vorbild wurde. Spät erst, mit 63 Jahren, wandte sich Laure Wyss mit "Frauen erzählen ihr Leben" der Literatur zu, sie blieb sich aber auch da treu. "Ich bin ein Mensch der Aufklärung", sagte sie 1998, als ihr der Kanton Bern seinen Literaturpreis verlieh, "und ich bilde mir nach wie vor ein, mit Schreiben etwas bewirken zu können. Literarisches ist für mich nicht gehobener, Journalistisches nicht weniger gehoben. Es muss einfach gut geschrieben sein." Auf die Erzählungen alleinerziehender Frauen folgten Bücher über Schicksale vor Gericht ("Ein schwebendes Verfahren", "Liebe Livia"), eigentlich belletristische Werke waren "Mutters Geburtstag" (1978), "Das rote Haus" (1982), die Erzählbände "Tag der Verlorenheit" (1984) und "Das blaue Kleid" (1989) sowie 1994 das bewegende Buch über Königin Christina von Schweden, "Weggehen, ehe das Meer zufriert". Als habe sie sich damit freigeschrieben, publizierte Wyss in den letzten acht Lebensjahren eine Reihe schmaler Bände, die das Persönlichste, aber auch das Radikalste zum Ausdruck brachten, was sie zu sagen hatte: den Gedichtband "Lascar", wo sich Engagement und Anarchie auf intime Weise verbanden und zum Beispiel jene Stunden thematisiert sind, die sie 1935, während ihres Studiums in Berlin, beim ausgegrenzten jüdischen Cellisten Silberstein nahm, dessen anagrammatisches Gegenstück "Rascal" (1999), wo die Kindheit am Bielersee den Folgen von Auschwitz gegenübergestellt ist, die luziden schweizkritischen "Briefe nach Feuerland" von 1997 und schliesslich "Schuhwerk im Kopf", die unprätentiöse Auseinandersetzung der 87-Jährigen mit Alter und Tod. "Niemand hält zum Adieu meine Hand fest", hatte es schon in "Rascal" geheissen, "ich bin frei, / ein Wesen, weiblich, / und weiss, das genügt / zum Eintreten in Räume, / die mich aufnehmen / als Teilchen / des Ganzen."



Beitrag im Bieler Tagblatt vom 17. August 2019