Von Wiese, Ursula

(Von der munter drauflos tippenden Romancière zur altersklug-pfiffigen Enzyklopädin .Eine unorthodoxe Annäherung anUrsula von Wiese und ihr literarisches Werk)

Als der Lektor und spätere Verleger Wolfgang Krüger 1931 Ursula von Wieses Roman-Erstling «Renate liebt» im Typoskript gelesen hatte, liess er die Verfasserin zu sich kommen. Sie hatte den Liebesroman jenem «schwarzen Loch» abgerungen, in das sie nach dem Ende ihrer eigenen Liebesgeschichte mit Werner von der Schulenburg gefallen war.
Aber davon handelte der Roman natürlich nicht. Leben und Literatur blieben streng geteilt. Die Titelheldin Renate war zwar, wie die Autorin später einmal bekennen sollte, «ein Gemisch von mir und Christel Oeltze von Lobenthal», sonst jedoch war an der locker-gefühlvollen Liebesgeschichte alles frei erfunden. Sogar der Schauplatz, denn Zürich und Küsnacht, wo die Handlung spielte, kannte Ursula von Wiese zu jenem Zeitpunkt bloss vom Baedecker her.
Und wie reagierte Wolfgang Krüger auf den Roman? Er rollte, wie Ursula von Wiese 1961 erzählt hat, die Blätter zusammen und fasste sein Urteil in die denkwürdigen Worte: «Ich möchte Ihnen das Manuskript am liebsten um die Ohren schlagen. Sie sind so begabt und schreiben so schlecht.»

Ursula von Wiese hat sich nicht so schnell entmutigen lassen und schrieb damals, teils in Berlin, teils auf der Alp «La Tranquillità» über dem Onsernone-Tal noch zwei weitere, ähnliche Romane: «Camilla das Räubermädchen oder Umwege zur Sanftmut» und «Bilder der Liebe». Aber erst der vierte Versuch, «Neun in Ascona», kam 1932 tatsächlich in die Buchhandlungen, und auch das vielleicht nur, weil es eine Gemeinschaftsproduktion des frisch getrauten Ehepaars Ursula von Wiese / Werner Johannes Guggenheim war und weil der sehr viel erfahrenere Ko-Autor den ärgsten sentimentalen Wildwuchs beseitigt und dem Ganzen eine seriöse, vielleicht etwas gar zu seriöse literarische Form gegeben hatte.
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Sieben Jahrzehnte sind seit jenem ersten literarischen Versuch ins Land gezogen, und Ursula von Wiese hat, rechnet man zu den Krimis, den Kinderbüchern, den unter eigenem Namen oder unter Pseudonym veröffentlichten Sachbüchern, Ratgebern, Kochbüchern usw. auch die Übersetzungen hinzu, über 350 Bücher auf den Weg gebracht. Und nun also, sei's als Tribut an das siebzigjährige Schriftstellerjubiläum, sei's als Wunschgeschenk zum fünfundneunzigsten Geburtstag: «Alles schon dagewesen. Gesammelte kleine Werke» - ein Band, der das Spektrum ihrer inzwischen erworbenen schriftstellerischen Möglichkeiten absteckt und eine Auswahl der am besten gelungenen Feuilletons, Glossen und Erzählungen aus den letzten vierzig, fünfzig Jahren versammelt.
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Was würde wohl, könnte er ihn noch erleben, Wolfgang Krüger zu dem Band sagen?
Sicher könnte von «Um die Ohren schlagen» keine Rede mehr sein, und mit dem Zwicker auf der Nase würde der (inzwischen natürlich bedenklich gealterte) Verlagsgewaltige das Inhaltsverzeichnis aufschlagen und auf die Beispiele verweisen, die er sich da angekreuzt hat. «Also das Motto», würde er mit einem strengen Blick über den Gläserrand hinaus sagen, «das stammt laut Büchmann nicht von Lucilius, wie Sie behaupten, sondern aus den «Satiren» des Aulus Persius Flaccus. Aber die Frage, wer das überhaupt lesen soll, ist natürlich berechtigt. Für den Wolfgang Krüger Verlag jedenfalls kommt eine Veröffentlichung nicht in Frage. Sie würden bei uns weiss Gott mehr Chancen haben, wenn Sie weiter in die Richtung von «Renate liebt» gegangen wären und uns süffige Kolportageromane im Stile des einstigen Wolfgang-Krüger-Grosserfolgs «Via mala» von John Knittel anbieten könnten - Bücher mit dem Ihnen bestens bekannten, touristisch attraktivem Tessiner oder Züricher «Background» zum Beispiel. Für das, was Sie da veröffentlichen wollen, empfehle ich Ihnen noch am ehesten einen dieser kleinen Schweizer Verlage, die, scheinbar unbekümmert um Absatz und Gewinn, herausbringen, was ihnen gefällt...»
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Hier würde Wolfgang Krüger einen Augenblick lang innehalten und einen melancholisch getrübten Blick über die Reihe der bunten Buchrücken schweifen lassen, die am gegenüberliegenden Bücherbord die aktuelle Krüger-Verlagsproduktion repräsentieren.
«Aber Sie wollen ja meine ganz persönliche Meinung hören», würde er dann fortfahren, «und da muss ich schon sagen: Sie flunkern uns da des öftern ganz schön was vor: die Genealogie des Teddybären etwa, die Sache mit der Energiegewinnung aus dem Rülpsen von Kühen, das Fitness-Rezept mit dem Rahm-Gurgeln oder die Abmagerungstherapie mit den Akupunkturspangen im Ohr. Aber eines muss man Ihnen lassen: Was nicht wahr ist, ist zumindest gut erfunden, und in Sachen Stil und Formulierung haben Sie seit dem Manuskript von 1931 ganz schön was zugelegt! Die Art und Weise, wie Sie beispielsweise den (ansonsten wiederum auf eher tönernen Füssen stehenden) Artikel ,Cocktail-Party' einleiten, wie sie den ollen Adolf Glasbrenner unter dem Stichwort ,Es ist höchste Eisenbahn' nochmals unter die Leute bringen, wie Sie die Grundstückspekulation, die Gen-Technik, die Astrologie, den Schlankheitskult , die Vermarktung der Sexualität und anderes mehr auf die Schippe nehmen - das ist ebenso souverän und brillant wie unterhaltsam und und amüsant. Manchmal ist beim Lesen Ihrer Texte aber auch eine leise Wehmut über mich gekommen. Sagt den jungen Mädchen in den schwarzen Kleidern mit den hohen dicken Absätzen und den Ringlein in den Zungen und Lippen denn jene Marlitt noch etwas, für die Sie sich so engagiert ins Zeug legen? Hat Ihre Geheimsprache der Liebe in einem Rock-Schuppen noch eine Chance? Interessiert die Stammgäste von McDonnalds die Herkunft von ,Pêche Melba' und ,Macédoine des fruits' überhaupt noch? Und auf einmal kommt mir dann Ihr ganzes verwunderliches Manuskript vor wie jenes wundervolle alte Puppenhaus, das Sie im gleichnamigen Märchen so anschaulich beschreiben und das nachts auf einmal lebendig wird und es dem Kind ermöglicht, eine längst vergangene, unwiederholbare Zeit mit ihrem Guten und Bösen wie in einem dichten poetischen Traum nachzuerleben, ohne dass sie nochmals Wirklichkeit zu werden braucht. »
So ungefähr würde er, könnte er nochmals in sein Verlagskontor treten und Ursula von Wiese ein Rendez-Vous geben, vielleicht reden, der gute alte Wolfgang Krüger, und ganz sicher würde er der Autorin am Ende tief in die Augen blicken, um ihr auch seinerseits noch die eine oder andere Frage zu stellen. Denn zum einen würde ihn ganz bestimmt wunder nehmen, wie aus der lebenslustigen Kolportageromanfabrikantin von 1931 eine stilistisch virtuose Enzyklopädin von derart staunenswerter Wissensfülle werden konnte - und zweitens würde er, sofern die Antwort auf die erste die zweite Frage nicht überflüssig machen würde, nur allzu gerne erfahren, warum Ursula von Wiese, obwohl sie doch offenbar Stoff in Hülle und Fülle dafür besass, nach 1932 keine weiteren Liebesromane mehr geschrieben hat.
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Die Sache mit der enzyklopädischen Wissensfülle und der schriftstellerischen Seriosität hat Ursula von Wiese nicht erst in ihrer Autobiographie «Vogel Phönix» von 1994, sondern bereits auch in ihrem Artikel im Lexikon des Zürcher Schriftstellervereins von 1961 geklärt. Aus der «munter drauflos tippenden Romancière» sei nach der Heirat mit Werner Johannes Guggenheim «eine ernsthafte Sekretärin geworden, die bei ihrem Manne in die Schule ging», heisst es da. Und tatsächlich scheint Ursula von Wiese damals der Literatur vorübergehend verlorengegangen zu sein. Zumindest gibt es in «Vogel Phönix» auf Seite 167 ein Bild, das sie zusammen mit vier mützchen- und sandalenbewehrten niedlichen Sprösslingen zeigt und mit den Worten kommentiert ist: «So zogen wir 1937 in Ascona täglich zum öffentlichen Lido, damit das Oberhaupt der Familie ungestört arbeiten konnte.»
Dann aber, 1946, als Werner Johannes Guggenheim unerwartet und viel zu früh starb, musste sie selbst für die Ernährung ihrer vier Kinder sorgen und tat von da an drei Dinge, die ihrem Können, ihrem Wissen und der Entwicklung ihrer stilistischen Fähigkeiten nur förderlich sein konnten: Sie führte Werner Johannes Guggenheims Job und Haupteinnahmequelle, das Übersetzen, weiter und übertrug nach ihrem Gesellenstück mit dem «Zauberer von Oz» im Laufe der Jahre weit über 300 Werke aus anderen Sprachen, vor allem aus dem Englischen, ins Deutsche. Zweitens arbeitete sie immer wieder längere und kürzere Zeit als Verlagslektorin - zuerst bei Albert Müller in Rüschlikon, dann bei Alfred Scherz in Bern und zuletzt bei Peter Schifferli im Arche-Verlag in Zürich - und leistete dabei nicht nur Kärrnerarbeit für andere, sondern steuerte auch immer wieder selbst aktuell-griffige unterhaltsame Sachbücher zu den Verlagsprogrammen bei. So konterte sie z.B. noch 1981, als ein Buch mit dem Titel «Wir sind rund, na und?» Furore machte, mit einem Gegenprodukt unter dem Titel «Wir sind schlank - Gott sei Dank». Drittens aber entwickelte sie seit jener Zeit ihre bewunderungswürdige Fähigkeit, zu allen möglichen Gelegenheiten kleine Feuilletons zu schreiben und sie den Zeitungen rechtzeitig vor dem Ereignis oder vor dem entsprechenden Jubiläum einzureichen, um so das ohnehin stets knappe Budget etwas aufzustocken. (Das, und nicht etwa eine angeborene Frömmigkeit, ist der Grund, warum in so vielen Texten des vorliegenden Bandes Weihnachten vorkommt!)
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So schrieb Ursula von Wiese also nicht als sogenannt «freie Schriftstellerin» zur Erhöhung ihres Ruhmes irgendwelche ambitionierte Werke, sondern sie verdiente das dringend benötigte Geld mit Übersetzungen und Lektoratsarbeiten und produzierte gleichsam im Nebenhinein kleine Gelegenheitstexte, die ihre Kräfte nicht überstiegen und denen sie von der Quellenlage und von der Problematik her gewachsen war. Und gerade diese ganz besondere Situation zwischen Vergnügen und Notwendigkeit, zwischen Anspruch und Unterhaltsamkeit, zwischen privater Lust und öffentlicher Vermarktung gibt Ursula von Wieses kurzen Texten ihre lockere Gelöstheit und ihr unverwechselbares journalistisch-schriftstellerisches Flair. «Im Mai 1946 starb mein Mann, und als ich die vier Kinder allein ernähren, kleiden und etwas lernen lassen musste, verlegte ich mich», heisst es im erwähnen Beitrag von 1961 deutlich, klar und illusionslos, «immer mehr aufs Übersetzen und beschränkte die Schriftstellerei auf kleinere Zeitungsbeiträge. Ich betrachte mich in der Liste der Schriftsteller als ,Ferner liefen...'.»
Wobei dieses «Nebenher», dieser Zwang, alle möglichen Gelegenheiten zu nutzen, um mit einer Glosse, einem Feuilleton oder einer Erzählung ein paar Franken zu verdienen, auch ganz deutlich auf die spezifische Arbeitsweise bzw. auf das Timbre, die Bandbreite und die Ausprägung der Artikel abfärbte. Recherchierjournalismus nach heutigem Verständnis hat Ursula von Wiese nie getrieben, Umfragen per Telefon waren schlicht zu teuer, und nebst dem eigenen Kopf, dem eigenen Einfallsreichtum, der Erinnerung und der stets akribisch betriebenen Zeitungslektüre war bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ihre ergiebigste, immer wieder genutzte Quelle der Grosse Meyer auf dem Redaktionsstand der sechsten Auflage von 1909...
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Und die zweite Frage, die Wolfgang Krüger der Debütantin von 1931 siebzig Jahre später stellen würde? Die Frage nach dem Verbleib der «Romancière» ? Warum eigentlich hat Ursula von Wiese nach 1932 keine Liebesromane mehr geschrieben?
So ganz hat sie es ja nicht lassen können, und die Liebe ist ihr immer wieder zum Thema geworden. Im Kriminalroman «Der Todessprung», den sie 1943 unter dem Pseudonym Renate Welling veröffentlichte, spielt sie ebenso eine Rolle wie in ihrem bislang letzten grösseren Erzähltext, den sie 1998 im Verlag ihres Sohnes herausbrachte, und 1948 hat sie unter dem Pseudonym Sibylle Hilton sogar ein «Brevier für wahre Liebeskultur» mit dem bestsellerträchtigen Titel «Sex-Appeal und Erotik» publiziert.
Aber den wirklichen, den eigentlichen Liebesroman, das Buch, das die Höhen und Tiefen ihres Lebens und Liebens auf den Punkt bringt, den hat Ursula von Wiese nicht geschrieben, den hat sie gelebt: sinnlich, leidenschaftlich, rückhaltlos, mit jeder Faser ihres Wesens und so, dass jeder Versuch, etwas davon literarisch festzuhalten, der Wirklichkeit gegenüber Papier, Theorie, leere Hülle bleiben musste.
In ihren Memoiren hat sie 1994 ihre Erlebnisse unter das Bild des Vogels Phönix gestellt, der sich immer wieder verbrennt und jedesmal wie neugeboren aus der Asche emporsteigt, und was sie in diesem Buch, unzimperlich und ohne sich zu schonen, vor uns ausbreitet, gibt eine ungefähre Ahnung davon, aus was für Tragödien und Komödien, himmelhochjauchzenden Glücksmomenten und niederschmetternden Enttäuschungen, sinnlichen Euphorien und tödlichen Frustrationen, aus was für Begegnungen und Abschieden, Sehnsüchten und Erfüllungen, Befriedigungen und Schmerzen dieser wirklich gelebte und mit vollen Zügen ausgekostete Lebens- und Liebesroman der Ursula von Wiese sich zusammensetzen würde.

Es würde da jene erste, als unglücklich empfundene Kinderzeit im Zeichen des Halleyschen Kometen zur Dastellung kommen, der berühmte, aber um das Kind unbekümmerte Vater, der sich einer erotischen Erzählung wegen fast um seinen Lehrstuhl gebracht hätte, die ewig unglückliche Mutter, der Bruder, den sie abgöttisch liebte und der später zu den Mitläufern der Nazis gehörte, während sie in der Schweiz als Ehefrau Werner Johannes Guggenheims die latenten und offenen Diskriminierungen mitbekam, die selbst da noch den Juden gegenüber an der Tagesordnung waren.
Aber der Roman würde natürlich die turbulenten Jugend- und Wanderjahre nicht unterschlagen: die Internatszeit in «Heiligengrabe», wo die Nachfahrin Karls des Grossen, die zugleich die Grossnichte des Effie-Briest-Vorbilds Elisabeth von Ardenne war, den Adelsstolz der von Wiese und Kaiserswaldau empfangen sollte und statt dessen heimlich Rudolf Steiner las und sich auf den Absprung ins Künstler-und Schauspielermilieu vorbereitete. Und die verrückten Zwanzigerjahre, als Ursula von Wiese an kleinen und grossen Theatern in lustigen Rollen ihr Auskommen suchte und dabei die Theater- und Literaturszene von innen und von unten her, aus der Sicht der kleinen, wenig beachteten Soubrette, durchschauen lernte. In Kassel, in Berlin und später im Tessin hat sie damals kennengelernt, was Rang und Namen hatte im deutschen Theater, in der Literatur und im Feuilleton. Sie tippte die Arbeiten von Julius Hay und Hans Sahl ins reine, war mit dem Starregisseur Jürgen Fehling liiert, ging bei Siegfried Jacobsohn, dem Gründer der «Schaubühne», ein und aus, diskutierte mit dem Theologen Paul Tillich, gehörte zu den nackt tanzenden Inselmädchen Max Emdens auf der Isola di Brissago und brachte nicht nur jenen weltgewandt-geschniegelten Werner von der Schulenburg, der sie schliesslich sitzen lassen sollte, sondern sogar den spröden Graphologen Max Pulver zum Schmelzen. Daneben kannte sie aber auch Ignazio Silone und Max Tau, Emil Ludwig und Robert Jungk, Fritz Hochwälder und Mascha Kaleko, Erich Mühsam und den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch. Und gleich wie damals, als Emmy Hennings Hugo Ball kennenlernte, geschah es auch Ursula von Wiese, als jene liebenswürdige Mischung aus Temperament und Intelligenz, Gelehrtheit und Weltfremdheit, Theaterbegeisterung und Idealismus in ihr Leben trat, die Werner Johannes Guggenheim hiess. Nicht dass sie als Ursula Guggenheim wie Emmy Ball zur Heiligen geworden wäre, aber in ihrem Lebens- und Liebesroman müsste dem rundlichen grossen Jungen mit dem Lockenkranz ein ganz gewichtiges, berührendes Kapitel gewidmet sein, ein Kapitel, das auch mit Guggenheims plötzlichem Herztod auf dem Berner Bahnhof im Mai 1946 nicht einfach zu Ende ginge, sondern in vielerlei Momenten und Bezügen weiterdauerte und allein schon deshalb bemerkenswert wäre, weil der Mann, der sie aus dem flatterhaft-leichten Leben herausloste und zur Familienmutter machte, ihr als Berater, Mentor und Vorbild auch jenes journalistisch-schriftstellerische Rüstzeug vermittelte, dank dem sie nach seinem Tod mit ihren vier Kindern überleben konnte. Ein Kapitel in dem imaginären Buche müsste unbedingt den Leiden und Freuden einer Verlagslektorin gewidmet sein, die ihre Texte und Arbeiten nicht unter eigenem Namen, sondern (auf Wunsch des ebenso ehrgeizigen wie eifersüchtigen und geizigen Verlegers) nur unter einem Pseudonym veröffentlchen durfte, ein anderes der gesellschaftlichen und sozialen Position einer alleinerziehenden Mutter in der Zeit vor der Erfindung des Sozialstaats. Und natürlich gäbe es in dem Roman ein Kapitel Film, ein Kapitel Theater (das grösste Glück ihres Lebens war, den Puck im «Sommernachtstraum» zu spielen!) und ein Kapitel Kabarett, wo man erfahren könnte, in wie vielen Rollen sie bis ins hohe Alter hinein ihrer Schauspielleidenschaft frönte. Und auch ein Kapitel «Ibiza» dürfte nicht fehlen, das von der Begeisterung Ursula von Wieses für dieses zu ihrer Zeit touristisch noch weitgehend unerschlossene Eiland handelte und davon, wie sie dort 1963 über den Unfalltod ihrer Tochter Cordelia hinwegzukommen suchte.
Und dann, ja, dann müsste dieser Roman auch ein Kapitel über das Alter enthalten, ein Kapitel, das davon handeln würde, wie entschlossen und unverdrossen Ursula von Wiese auch diese Unerquicklichkeit und sogar eine schwere, unheilbare Krankheit auf sich genommen hat und wie ermutigend sie damit auf viele von denen gewirkt haben muss und noch immer wirkt, die das Altsein einfach als eine Zeit der Untätigkeit und Resignation hinnehmen, statt ein aktives, gestaltetes Lebensalter wie die früheren daraus zu machen.
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«Alles schon dagewesen» heisst Ursula von Wieses bislang letztes Buch. Vieles von dem, was wir für so einzigartig und neu erfunden halten, ist, die Texte belegen es in schalkhaft-humorvoller Weise, tatsächlich schon dagewesen. Unverwechselbar eigenartig und durch nichts und niemanden vorweggenommen aber erscheint einem das, was diese Frau und Schriftstellerin und Journalistin, gerade weil sie ihren grossen Roman nicht schrieb, sondern lebte, in ihrer Existenz, in ihrer Person, in ihrem Temperament und in ihrer selbstbewusst-selbstverständlichen Weiblichkeit in einem Jahrhundert, das auf Zerstörung und Untergang hin programmiert war, an unprätentiöser Humanität, an spielerischer Leichtigkeit des Seins und an ansteckend munterer Lebensfreude verkörpert hat und noch immer verkörpert.
(Rede bei der Präsentation von U.v.Wieses Buch «Alles schondagewesen» im Zürcher Literaturhaus)