Mit fast 2000 Mitwirkenden erlebte am 23. Dezember 1911 in der Londoner Olympia Hall eine Produktion der Superlative ihre Premiere. «Das Mirakel» war eine Pantomime mit Musik und wurde von Max Reinhardt inszeniert, der sie bis 1925, als er an den Salzburger Festspielen damit Triumphe feierte, in Wien, Leipzig, Berlin und New York für Hunderttausende zum Erlebnis machte. Die Musik steuerte Engelbert Humperdinck bei, das Libretto aber, das eine junge schöne Nonne aus ihrem Kloster ausbrechen und von immer wieder anderen Männern geraubt werden lässt, ehe sie der Gottesmutter ihr totes Kind in die Arme legt und unter Glockengeläute ins Kloster zurückkehrt, stammte vom am 7.Mai 1878 in Stuttgart geborenen Schweizer Fabrikantensohn Karl Gustav Vollmoeller.
Der promovierte Altphilologe hatte als 19jähriger die Gunst Ste-fan Georges gefunden und galt seit 1903, seit der Publikation von «Parcival. Die frühen Gärten», als – leider dann nicht in Erfüllung gegangene – Hoffnung der impressionistischen Lyrik. Ehe er 1933 in die USA auswanderte, wo sich der Drehbuch-verfasser von Josef von Sternbergs «Blauem Engel» ganz dem Film zuwandte und wo er am 18.Oktober 1948 fast vergessen starb, lebte der Freund Gabriele d’Annunzios im Palazzo Ven-dramin in Venedig, wo 1883 Richard Wagner seinen letzten Seufzer getan hatte. Dorthin lud der pantomimische Spezialist für Frauenraub im September 1930 auch seine damals neuste Damenbekanntschaft, die Schweizerin Annemarie Schwarzen-bach, 22, ein. Obwohl eher an Frauen interessiert, war die ly-rische Debütantin schwer davon beeindruckt, dass Vollmoeller mit ihrem Idol Stefan George befreundet war, reizte mit der kuriosen Affäre und der heimlichen Reise nach Venedig aber ihre gestrenge Frau Mama zur Weissglut. Sie sei «so ausser sich, wie ich das seit Jahren oder überhaupt nie erlebt habe, und ich versichere Dir, dass ich, falls das noch einmal vor-kommt, verrückt werde», schrieb sie ihrer in jenen Wochen eben neu aquirierten Freundin Erika Mann.