John F. Vuilleumier

»Das Zuchthaus tötet und vernichtet Gutes und Schlechtes. Es lässt von der Menschenseele nichts mehr übrig als eine Ruine, als ein Wrack ...« So steht es in der Broschüre mit dem Titel Wir alle zu lesen, die 1921 in Basel erschien. Wir alle, so die Quintessenz des kämpferischen Pamphlets gegen die skandalösen Zustände im damaligen Gefängniswesen, tragen Keime dessen in uns, was den Verbrecher zum Verbrecher macht. Darum steht es uns nicht zu, Vergeltung zu üben, sondern es ist im Gegenteil solidarische Hilfe und Unterstützung gefordert, wenn die Gesellschaft vom Verbrechertum befreit werden soll.
Der Verfasser, der promovierte Jurist John F. Vullleumier, wusste, wovon er sprach, hatte er sich doch in der Schweiz und in Amerika mehrfach freiwillig ins Zuchthaus sperren lassen, um das Leben und die Seelenverfassung der Gefangenen kennenzulernen. Die Eindrücke, die er dabei empfing - er hat sie 1956 unter dem Titel Sträfling Nummer 9669 ausführlich protokolliert -, waren so stark, dass Vullieumier nie wieder davon loskam und seine Beschäftigung mit dem Problem des Verbrechens und den Kampf für eine vorurteilslose, wirklich humane Gesellschaft auch dann noch weiterführte, als er längst nicht mehr Jurist, sondern nur noch Schriftsteller war. Dass seine Erzählungen und Romane nicht etwa verkappte politische oder juristische Kampfschriften wurden, sondern das Dasein in seiner ganzen Fülle und in ungewöhnlicher räumlicher Weite spiegelten, dafür sorgte allein schon das abenteuerliche Leben dieses Schriftstellers, der nur im Krieg ein paar Jahre in seiner jurassischen Heimat lebte, sonst aber seinen Wohnsitz in Paris hatte, von wo aus er die ganze Welt bereiste.
Bereits im Erstling Carl Christophs grüne Fassade (1927), aber auch im erstaunlichen autobiographischen Roman Hilli, Hildebrand und Er (1932), vor allem jedoch in Muramur (1951), seinem wohl gelungensten Werk, wird zudem eine Komponente sichtbar, die man bei Vullieumier zunächst nicht erwarten würde: diejenige des Mystischen, Surrealen, mit der er das Erzählte um eine geheimnisvolle zusätzliche Dimension zu bereichern versteht. Was jedoch am meisten zur Attraktivität seiner Romane beiträgt, ist die freie und befreiende
Rolle, die er der Erotik zuweist. Das wird wiederum in Muramur sehr schön sichtbar, entfaltet sich aber am glaubwürdigsten in den beiden jurassischen Romanen Die vom Berg (1946) und Die dreizehn Liebhaber der Jeannette Jobert von 1943. Diese Jeannette Jobert ist eine bezaubernde, lebensfrohe junge Frau, die eine Art Lehrjahre des Herzens durchlebt und dabei ein ganzes Jura-Dorf durcheinanderbringt, bis sie schliesslich doch noch beim »Richtigen« unter die Haube kommt. Kein vollkommenes Kunstwerk vielleicht, aber der amüsante Beweis dafür, dass man, um einen geniessbaren Schweizer Dorfroman zu schreiben, am besten zuerst Paris und die Südsee kennenlernt! (Literturszene Schweiz)