Seltsam, dass es in der Familie von Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) noch eine zweite jung verstorbene Schriftstellerin mit einem nicht weniger tragischen Schicksal gab: die am 25. November 1867 in Neuenburg geborene und am 31. Januar 1906 in Genf verstorbene Nancy Marie Vuille. Sie gehörte zum welschen Zweig der in La Sagne beheimateten Familie Vuille, die sich in Deutschland Wille schrieb und den Schweizer General im Ersten Weltkrieg und auch seine Enkelin Annemarie hervorbrachte. Die Selbständigkeit und Autonomie der tollkühnen Weltreisenden und Fotoreporterin des zwanzigsten Jahrhunderts war der schwermütigen Verwandten des neunzehnten Jahrhunderts aber noch nicht gegeben. Literaturstudentin in Genf, näherte sich die 23-Jährige ihrem Professor Edouard Rod, der zugleich der damals berühmteste Romancier der Welschschweiz war. Und tatsächlich gelang es ihr mit Hilfe des berühmten Mannes, dem sie heimlich nach Paris folgte, drei Romane zu publizieren, die das Thema Bindung und Freiheit aus spezifisch fraulicher Sicht abhandeln: «Au grés des choses» («Der Lauf der Dinge», 1895) erzählt, wie eine junge Adlige nach langem Zögern in die Ehe mit einem ungeliebten reichen Mann einwilligt, um die Eltern vor dem Konkurs zu bewahren. «Résistance» («Widerstand», 1898) ist die Geschichte einer Arzttochter, die mit einem Liebhaber von zu Hause durchbrennt, als uneheliche Mutter sitzen gelassen wird und sich in Paris aus eigener Kraft zur Ärztin emporarbeitet. «Le stérile sacrifice» («Das nutzlose Opfer», 1901) schliesslich schildert das einsame Martyrium der jungen Mahaut, die mit ansehen muss, wie ihr Auserwählter aus Opportunismus eine andere heiratet. Allerdings veröffentlichte Nancy Marie Vuille ihre Romane nicht unter ihrem eigenen Namen, sondern unter dem Pseudonym André Gladès und vermied auch jeden autobiografischen Hinweis. Etwas lässt sich aus den ansonsten eher trivialen Romanen aber dennoch herausspüren: die Frustration, die sie im Verhältnis zu Edouard Rod erlebte! Rod war verheiratet, hatte zwei Kinder, und ihre Beziehung musste allen hämischen Gerüchten zum Trotz eine rein literarische bleiben. So blieb ihr nur jenes «Sacrifice», das sie als Autorin immer neu thematisierte. Edouard Rod aber merkte erst 1906, als Nancy überraschend einem Herzinfarkt erlag, was wirklich in ihr vorgegangen war. Nun fühlte er sich schuldig an ihrem Unglück, beklagte sie im Vorwort zu einer posthumen Textsammlung auf ergreifende Weise und folgte ihr, ohne den Verlust je verkraften zu können, vier Jahre später im Tode nach. In seinen Werken jedoch hatte die Kollegin mehr und bedeutendere Spuren hinterlassen als er in den ihren. Hatte er bis dahin den illusionslosen Naturalismus Zolas und der Gebrüder Goncourt imitiert, so wurde er nach 1890, nach der Begegnung mit Nancy Marie Vuille, die ihn mit der Melancholie ihres Wesens in den Bann schlug, mit Romanen wie «La sacrifiée» («Die Geopferte») oder «L’innocente» («Die Unschuldige») auf einmal zum Prediger der absoluten Liebe und zum Anwalt der um die letzte Erfüllung betrogenen Frau. 1960, als ihr Briefwechsel einsehbar wurde, bestätigte sich, was im puritanischen Genf von 1900 niemand hatte glauben wollen: dass die Beziehung zwischen Nancy Marie Vuille und Edouard Rod tatsächlich rein geistiger Natur gewesen sein muss!