Zwischen 1920 und 1933 hätte kaum jemand Hermann Hesse widersprochen, der über Regina Ullmann schrieb: «In ihren kleinen Erzählungen ist alles das erreicht, wonach die falschen Volks- und Heimatdichter so sehr streben. Es duftet nach Brot und Honig, nach Stall und Volk; es wird von kleinen Leuten und Kindern erzählt, und alles ist voll Geheimnis.» Bücher wie das Drama «Die Feldpredigt» von 1907, der Prosaband «Von der Erde des Lebens» (1910) oder die Sammelbände «Die Landstrasse» (1921), «Die Barockkirche» (1925) und «Vom Brot der Stillen» (1932) gehörten zum Bestand der Gegenwartsliteratur, und doch wussten nur wenige, welch schwerem Schicksal all dies abgerungen war. Am 14. Dezember 1884 als Tochter deutsch-jüdischer Eltern in St. Gallen geboren, war Regina Ullmanns Kindheit von Entwicklungsstörungen und Legasthenie überschattet. Nach dem frühen Tod des Vaters zog ihre Mutter mit den beiden Töchtern nach München, wo Regina als eine Art Wunderkind in die Schwabinger Literatenszene Eingang fand, aber 1906 und 1908 auch zwei Töchter gebar, deren illegitime Väter, der Ökonom Hanns Dorn und der Psychiater Otto Gross, von ihrer Behinderung profitiert hatten. Erfahrungen wie diese trugen dazu bei, dass Regina Ullmanns Denken und Fühlen von jener erschütternden dunklen Tragik bestimmt war, die Rilke in ihren Bann schlug. Neben ihm kümmerte sich etwa auch Ludwig Derleth um die bei aller Handicapierung als genialisch-interessant geltende Frau und brachte sie 1911 dazu, zum Katholizismus überzutreten. Immer wieder von Krisen heimgesucht und ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, ausserhalb der Literatur als Gärtnerin oder Kunsthandwerkerin ein Einkommen zu finden, war der Tod Rilkes 1926 ein schwerer Schlag für das labile Selbstvertrauen und das wirtschaftliche Überleben der Dichterin. Von den Nazis aus dem Autorenverband geworfen und mit Publikationsverbot belegt, zog Regina Ullmann 1936 ins österreichische Salzburg, wo 1938 ihre Mutter starb, mit der sie in einer nicht unproblematisch engen Symbiose gelebt hatte. Als die Deutschen einmarschierten, gelang es ihr schliesslich, mit Hilfe von Nanny Wunderly-Volkart buchstäblich in letzter Minute vor der Einführung des fatalen J-Stempels in die Schweiz zu gelangen. Bis 1959 lebte sie zurückgezogen im katholischen St. Galler Marienheim und erlebte da eine letzte Phase von Produktivität, die Erzählbände wie «Der Engelskranz» (1942) oder «Die schwarze Kerze» (1954) hervorbrachte. Auch mit ihrer Geburtsstadt konnte sie sich zuletzt wieder versöhnen, war sie doch, als sie am 6. Januar 1961 bei ihrer Tochter in Ebersberg bei München starb, nicht nur St. Galler Stadtbürgerin, sondern auch die erste Frau, die den St. Galler Kulturpreis erhalten hatte. 1938, als sie nach dem Anschluss Österreichs verzweifelt nach Möglichkeiten suchte, in die Schweiz einzureisen, hatte das alles noch sehr viel düsterer ausgesehen. Damals hatte die 54-Jährige ihrer Freundin Elise Neuburger nach St. Gallen geschrieben: «Wüsst ich doch jemand, der mich adoptierte und zur Schweizerbürgerin machte! Der Gedanke entbehrt wohl der Komik nicht, das muss man zugeben! Aber vielleicht gäbe es jemand Rechten, der besondere Liebe benötigte und der auf so einen Vorschlag grossmütig einginge. Lebte Fräulein Wirth noch, die liebe alte Lehrerin der Privatschule, sie würde bestimmt verständnisvoll darauf eingehen!»
Ullmann, Regina
*St.Gallen 14.12.1884, Ebersberg (Bayern) 6.1.1961, Schriftstellerin. Als
Tochter eines jüd., in Österreich heimatberechtigten Fabrikanten
erlebte U. eine schwierige Kindheit in St.Gallen. 1902 übersiedelte sie mit
der Mutter nach München und brachte 1906 bzw. 1908 zwei uneheliche
Töchter zur Welt. Nach der Publikation erster Erzählungen im
»St.Galler Tagblatt« erschien mit dem Einakter
»Feldpredigt« (1907) ihr erstes Buch, was ihr die Bekanntschaft R.M.
Rilkes einbrachte, der in der Folge eine Art Mentor für sie wurde, ihre
Manuskripte korrigierte, sie den Verlegern empfahl und Nanny Wunderly-Volkart
dazu brachte, ihr lebenslang eine Rente zu zahlen. Nach dem mässigen Erfolg
ihrer »Gedichte« (1919) errang sich die 1911 zum Katholizismus
konvertierte U. mit Erzählbänden wie die »Barockkirche«
(1925) und »Vom Brot der Stillen« (2 Bde., 1932) einen Namen als
eigenwillige, christl. orientierte Erzählerin. Dass ihr uvre relativ
schmal blieb, hing z.T. mit ihren schwierigen berufl. und seel.
Existenzbedingungen, z.T. aber auch mit dem Erwartungsdruck zusammen, dem ihr
Schaffen in der Diskussion mit Rilke, L. Derleth, K. Wolfskehl, H. Carossa, A.
Steffen, T. Mann u.a. ausgesetzt war. So wich sie immer häufiger auf andere
Tätigkeiten aus. 1938 mietete sie sich im Marienheim in St.Gallen ein, wo
sie, ab 1950 St.Galler Bürgerin, bis 1959 wohnte. 1960 erschienen ihre
»Ges. Werke« (2 Bde., 21978).
Lit.: Delp, Ellen: R.U.,
Einsiedeln 1960. Ullmann, Regina: "Ich bin den Umweg statt den Weg
gegangen." Ein Lesebuch, hrsg. von Charles Linsmayer, Frauenfeld 2000.
(Schweizer Lexikon)
Ullmann, Regina
* 14. 12. 1884 St. Gallen, 6. 1. 1961 Ebersberg/Obb.; Grabstätte:
Feldkirchen bei München, Friedhof. - Erzählerin u. Lyrikerin.
Die Tochter eines jüd. Kaufmanns österr. Nationalität u. einer
dt. Mutter durchlebte eine schwere, durch den frühen Tod des Vaters (1889),
ein problemat. Verhältnis zur Mutter u. durch schwere
Entwicklungsstörungen überschattete Kindheit. Ab 1902 lebten Mutter u.
Tochter in München, zeitweise auch in Wien, wo U. sich autodidaktisch
weiterbildete u. 1906 bzw. 1908 zwei Töchtern das Leben schenkte, deren
Väter der Wirtschaftswissenschaftler Hanns Dorn bzw. der Psychoanalytiker
Otto Groß waren. Nachdem sie im Juni/Juli 1907 im »St. Galler
Tagblatt« mit den drei Prosatexten Sonntag in der Schmiede, Mittagsstunde
u. Kinderfest erstmals an die Öffentlichkeit getreten war, publizierte die
23jährige mit dem Einakter Feldpredigt (Ffm. 1907), der Leidensgeschichte
eines gelähmten Knaben, der in der Feldarbeit u. dem dadurch
herbeigeführten Tod Erlösung findet, ihr erstes Buch. Von der Mutter
bestärkt, sandte sie es im Frühling 1908 Rilke, der in der Folge in
einen bis zu seinem Tod fortgeführten Briefwechsel mit ihr trat (s. Rainer
Maria Rilke: Briefwechsel mit Regina Ullmann und Ellen Delp. Ffm. 1987), sie
literarisch u. materiell förderte u. öffentlich für sie eintrat.
So schrieb er das Geleitwort zu ihrem ersten Prosaband, Von der Erde des Lebens
(Mchn. 1910), u. nahm maßgebl. Einfluß auf Auswahl u. Gestaltung
ihrer Gedichte (Lpz. 1919). Auf den Einfluß des Ehepaars Anna u. Ludwig
Derleth dagegen ging ein anderes Ereignis zurück, das U. die Hinwendung zu
der für ihr Werk äußerst bedeutsamen süddt. barocken
Volksfrömmigkeit u. zur neutestamentl. u. mittelalterl. Hagiographie
ermöglichte: die Konversion zum Katholizismus im Nov. 1911. Dem
großen intellektuellen Freundeskreis, dem neben Rilke u. Derleth auch Lou
Andreas-Salomé, Karl Wolfskehl, Rudolf Kassner, Hans Carossa, Arthur
Schnitzler, Editha Klipstein, Albert Steffen, Eva Cassirer, Ellen Schachian-Delp
sowie später Carl Jacob Burckhardt, Hermann Hesse u. Thomas Mann
angehörten, war es zu verdanken, daß U. der Versuchung, populäre
Heimatkunst zu schreiben, bei aller Gemeinsamkeit von bäuerl. Schauplatz u.
Thematik widerstand u. unter enormen, zeitweise zum völligen Verstummen
führenden Anstrengungen einem überaus hohen ästhetischen Ideal
nachlebte. »In diesen kleinen Erzählungen ist alles das erreicht,
wonach die falschen Volks- und Heimatdichter so sehr streben«, erkannte
Hesse. »Es duftet nach Brot und Honig, [...] nach Stall und nach Volk; es
wird von kleinen Leuten und Kindern erzählt, und alles ist voll
Geheimnis.«
Der hohen Wertschätzung, die sie in den 20er u. 30er Jahren dank ihrer
Prosabände Die Landstraße (Lpz. 1921. Darin die von Rilke als ihre
gültigste betrachtete Erzählung Von einem alten Wirtshausschild), Die
Barockkirche (Zürich 1925), Vom Brot der Stillen (2 Bde., Erlenbach 1932)
u. Der Apfel in der Kirche (Freib. i. Br. 1934) als heimat- u.
traditionsverbundene christl. Dichterin von höchstem ästhetischen
Niveau genoß, stand, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, ihr
privates Schicksal einer materiell hilfsbedürftigen, psychisch labilen, der
einengenden Fürsorge der Mutter ausgesetzten, künstlerisch
verunsicherten Frau gegenüber. Mit der Mutter wohnte sie ab 1915 eine
Zeitlang (wie später Rilke) in einem Turm in Burghausen/Salzach, wo sie
sich als Gärtnerin u. Imkerin versuchte. 1917-1923 lebte sie -
zunächst allein - in Mariabrunn bei München, wo eine Reihe ihrer
erfolgreichsten Erzählungen entstand. 1923 erwarb die Mutter ein Haus in
Planegg, das die beiden Frauen in der Folge aber nur selten bewohnten. Nach
Rilkes Tod lebte U., eingeladen von Nanny Wunderly-Volkart, sechs Monate in
Muzot; 1929 ermöglichte ihr die gleiche Mäzenin in Meilen am
Zürichsee eine - allerdings nur kurzfristig wahrgenommene - Existenz als
Herstellerin von bemalten Wachsfiguren. 1935 wurde sie aus dem dt.
Schriftstellerverband ausgeschlossen, 1936 gab sie das Haus in Planegg auf u.
übersiedelte nach Salzburg. 1938, kurz nach dem Tod der Mutter, zog sie in
das von Nonnen geführte Marienheim in St. Gallen, wo sie, 1950 ins
Stadtbürgerrecht aufgenommen u. 1954 mit dem Kulturpreis geehrt, bis 1959
lebte. Ihre letzten Monate verbrachte sie unter der Obhut ihrer Tochter Camilla
in Eglharting/Bayern. Die Rückkehr in die Schweiz u. die Beruhigung der
äußeren Lebensumstände waren ihrer Produktivität
förderlich gewesen, u. mit den insg. 19 erstpublizierten Erzählungen
der Bände Der Engelskranz (Einsiedeln 1942), Madonna auf Glas (ebd. 1944)
u. Schwarze Kerze (ebd. 1954) legte sie nochmals eine Serie eindringl., dichter
Texte vor, die jenes Urteil bestätigten, das die »Schöne
Literatur« bereits am 28. 10. 1922 über ihr Schaffen abgegeben hatte:
»Regina Ullmann ist eine der ganz wenigen Frauen, die wirklich
dichterische Kräfte haben. Sie erfindet nicht eigentlich, ist nicht
eigentlich schöpferisch, aber sie erzählt die einfachsten Dinge [...]
in unvergeßlicher Weise.«
AUSGABEN: Ges. Werke. 2 Bde., Einsiedeln 1960. - E.en, Prosastücke, Gedichte. Hg.
Friedhelm Kemp. 2 Bde., Mchn. 1978 (um einen biogr.- bibliogr. Anhang erw.
Ausg. der Ges. Werke). Ullmann, Regina: "Ich bin den Umweg statt den Weg
gegangen." Ein Lesebuch, hrsg. von Charles Linsmayer, Frauenfeld 2000.
LITERATUR: Walter Tappolet: R. U. Eine Einf. in ihre E.en. St. Gallen 1955. - Ellen Delp:
R. U. Eine Biogr. Einsiedeln 1960. - Werner Günther: R. U. In: Dichter der
neueren Schweiz. Bd. 2, Bern 1968. - Don Steve Stephens: R. U. Biography,
Literary Reception, Interpretation. Diss. Austin/USA 1980.
(Bertelsmann Literaturlexik) Schon in den ersten drei Prosastücken, mit denen
die damals Dreiundzwanzigjährige im Sommer 1907 von München aus im St.
Galler Tagblatt debütierte, ist Regina Ullmanns schriftstellerische
Physiognomie unverwechselbar enthalten: die altertümelnde, stark bildhafte
Sprache, die umständlich-eigenwillige Syntax, der
bäuerlich-ländliche Schauplatz, der Hang zum
Orakelhaft-Geheimnisvollen sowie die Tendenz, Tiere, Pflanzen und
Gegenstände als beseelte Wesen zu beschreiben. Später, als sie vom
Judentum zum Katholizismus konvertiert war, kamen noch die Vorliebe für das
Religiöse und der moralische Rigorismus hinzu - Eigenschaften, die mit den
obgenannten zusammen ihre Erzählkunst in den Augen vieler Leser der
dreissiger und vierziger Jahre zum Inbegriff heimat- und traditionsverbundener
christlicher Dichtung machten.
Nur wenige ahnten etwas vom tragischen Schicksal, das hinter alldem verborgen
lag. Früh vaterlos, stand Regina Ullmann, ehe sie sich für die letzten
zwanzig Jahre in ein katholisches Hospiz ihrer Geburtsstadt St. Gallen
zurückzog, 54 Jahre lang unter der sorgenden, aber auch eingrenzenden Obhut
ihrer Mutter, die von der Genialität ihrer Tochter ebenso überzeugt
war wie von deren Lebensuntüchtigkeit. Letztere war zumindest nach den zwei
unehelichen Geburten der Jahre 1906 und 1908 so gut wie aktenkundig, und kein
Mensch wunderte sich, dass die Töchter der Dichterin bei fremden Leuten
aufwachsen mussten. Die intellektuellen Wiener und Münchner Kreise, denen
die Väter ihrer Kinder angehörten, verhalfen aber auch ihrem
dichterischen Talent zu Anerkennung. Neben Ludwig Derleth, Karl Wolfskehl und
Hans Carossa nahm sich bis 1926 vor allem Rainer Maria Rilke der jungen
Dichterin an, korrigierte ihre Manuskripte, machte Propaganda für sie und
brachte seine Schweizer Mäzene dazu, ihr lebenslang eine Rente
auszuzahlen.
Regina Ullmann ihrerseits tat ihr möglichstes, um den erlesenen
Freundeskreis und ihre Mäzene nicht zu enttäuschen. Seite für
Seite quälte sie sich damit ab, mit ihren im Grunde naiven, mehr der
spontanen Intuition als einem kontrollierten Kunstverstand gehorchenden Mitteln
die Stilhöhe jenes neoromantischen Ästhetentums zu erreichen. Und ohne
Zweifel kommt den besten ihrer rund 70 Erzählungen auch tatsächlich
das Verdienst zu, die bayrisch-österreichisch-schweizerische Heimatdichtung
- denn allen drei Ländern gehörte Regina Ullmann innerlich zu -
sozusagen weltliterarisch salonfähig gemacht zu haben. Dennoch fühlt
sich der heutige Leser noch am ehesten dann wirklich angesprochen, wenn durch
ihre barocke Kunstfertigkeit das persönliche Engagement hervorschimmert: in
den erstaunlich zahlreichen Texten etwa, die von blinden, buckligen, lahmen,
irren oder sonstwie behinderten Menschen handeln - Geschöpfen, denen sich
Regina Ullmann zeit ihres eigenen schweren Lebens ganz besonders verbunden
fühlte.
Eine Werkausgabe in 2 Bänden ist, herausgegeben von Friedhelm Kemp, bei
Kösel, München, erschienen. Im Insel-Verlag hat Walter Simon 1987 den
Briefwechsel zwischen Rilke und Regina Ullmann herausgegeben. Ullmann, Regina:
"Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen." Ein Lesebuch, hrsg. von
Charles Linsmayer, Frauenfeld 2000.
(Literaturszene Schweiz)