Sie finden eine Lerche wunderbarer als ein Flugzeug, sie werten den Menschen nach der Seele, nicht nach dem Geld. Sie wollen dem »guten Alten« wieder zu seinem Recht verhelfen, ziehen Goethe und Mörike allen modernen Lebensäusserungen vor und erwägen zuletzt, die profane Maschinenwelt Europas zu verlassen und im Urwald einen biedermelerlichen Idealstaat zu schaffen. Als sie jedoch - es ist 1937/38 - die Schweiz in Gefahr sehen, entschliessen sie sich, »das Ideal im Vaterlande selbst zu verwirklichen« und das entvölkerte Bergdorf St. Martin zu ihrem Utopia zu machen. Obwohl der kuriose Herzog von Leuchtenberg, Herrscher über die imaginäre Welt einer selbstgebastelten Modellstadt, davor warnt, »aus der Sehnsucht eine Wirklichkeit im materiellen Sinne zu machen«, ist die patriotische Begeisterung, machtvoll gesteigert durch das Erlebnis der Landesausstellung 1939, schliesslich gross genug, um auch die noch zögernden Bundesbrüder auf das alpine Siedlungsexperiment zu verpflichten.
Als Karl Schöllys Briefroman Der Bund von St. Martin 1941 erschien, war die patriotische Euphorie von 1939 allerdings im zermürbenden Alltag der Kriegszeit schon so stark abgeklungen, dass die Freunde von St. Martin dem unvorbereiteten Leser in ihrer hochgemuten Vaterlandsbegeisterung bereits befremdlich vorkommen mussten. Mit Verständnis rechnen konnte Schölly am ehesten noch bei jenen Eingeweihten, die schon 1938, anlässlich des Erstlings Neuweimar, das Besondere seiner an der deutschen Klassik orientierten Schreibweise erkannt hatten und ihm, wie dies heute etwa im Falle von Hermann Lenz ganz selbstverständlich ist, zubilligten, die Früchte eines überstarken Bildungserlebnisses literarisch zu verarbeiten.
Die patriotische Tendenz des Bundes von St. Martin scheint sich aber nach 1945 auch für Schölly selbst als Sackgasse entpuppt zu haben. jedenfalls ist eine Fortsetzung, in der er eine Zeitlang sein kommendes Hauptwerk erblickte, nie erschienen, und als er 1947, ganz bewusst an einen »engeren Freundeskreis« gewandt, nochmals auf jene Bundesbrüder zu sprechen kam, führte er die Leser nicht nach St. Martin, sondern ins imaginäre Herzogtum Leuchtenberg, wo dem Höhenflug der Phantasie keine materiellen Grenzen gesetzt sind. Dass Besuch in Leuchtenberg erst 1972 und als Privatdruck erschien, ist übrigens kennzeichnend für diesen Autor, der sein Werk - 14 Bände à 500 Manuskriptseiten sollen in der St. Galler Kantonsbibliothek eingelagert sein - ausserhalb des »Käfiggitters« seiner Berufsarbeit als Beamter in St. Gallen schrieb, und zwar, weil die Verleger ihn als unzeitgemäss ablehnten, fast ganz »für die Schublade«.
Abgesehen von einigen meisterhaften Kurzgeschichten fand zwischen 1945 und dem Tod des Fünfundachtzigjährigen am 9. April 1987 nur noch ein einziges grösseres Buch den Weg zum Publikum: Bildersäle, die 1934 abgeschlossene Geschichte einer Jugend in St. Gallen, welche 1977, zu Schöllys 75. Geburtstag, publiziert wurde und längst wieder vergriffen ist. Die geistige Wahlverwandtschaft innerhalb eines Freundeskreises steht im übrigen so sehr im Zentrum von Schöllys Schaffen, dass ein Bestseller-Erfolg seinem Ruhm wohl weit abträglicher wäre als die bloss scheinbar erfolglose Existenz als hartnäckig sich haltender Geheimtip für Eingeweihte!
(Literaturszene Schweiz)

Schölly, Karl

*St.Gallen 12.4.1902, †ebd. 8.4.1987, Schriftsteller. Nach der Lehre in einer Eisenwarenhandlung arbeitete S. in versch. Berufen, ehe er ab 1943 bis zu seiner Pensionierung als Beamter der kant. Verw. tätig war. Sein Tausende von Typoskriptseiten umfassendes schriftsteller. Werk, von dem nur ein Bruchteil veröffentlicht ist, schuf der an Goethe und Mörike geschulte Autodidakt in seiner Freizeit. Debütiert hatte er 1932, zum Goethe-Jahr, mit dem autobiograph. Roman »Neuweimar« (erschienen 1938), dem der Briefroman »Der Bund von St.Martin« (1941) folgte. Beide Bücher handeln von idealist. gesinnten Freundeskreisen, die vom Wiedererstehen einer an Goethes Weimar orientierten idealist. Welt träumen. Konkret hatte S. seine Utopie in einem Schweizer Bergtal ansiedeln wollen, doch resignierte er im 1947 entstandenen »Besuch in Leuchtenstadt« (erschienen 1970) vollends vor der Realität. S., der seine Jugend in »Bildersäle« (1977) beschrieben hat, leistete sein Bestes auf dem Gebiet der Novelle: »Ruhe auf der Flucht« (1942), »Der ewige Wächter« (1943), »Der Tod von Arles« (1945), »Der Auserwählte« (1946), »Die Brücke« (1949) und weitere Erzählungen gehören in ihrer Dichte und Formvollendung bei aller Konventionalität zu den überzeugendsten Leistungen schweiz. Prosa in der Mitte des 20. Jh. … Lit.: Stäuble, E.: Liebe und Freiheit als Lebensraum, in: K.S., Der ewige Wächter, St.Gallen 1982 (mit Bibliographie). (Schweizer Lexikon)



Schölly, Karl

* 12. 4. 1902 St. Gallen, † 8. 4. 1987 St. Gallen. - Erzähler, Lyriker.

Der Sohn eines St. Galler Kaufmanns machte nach der Volksschule eine Lehre in einer Eisenwarenhandlung u. arbeitete, nach verschiedenen Tätigkeiten, 1943-1967 als Kanzlist in seiner Vaterstadt. Im Gefolge einer Krankheit hatte der 16jährige durch die intensive Beschäftigung mit Goethe zu eigenem literar. Ausdruck gefunden u. beschlossen, jene geistige Welt, die sich für ihn in Goethes Weimar verkörperte, mit Hilfe von Gleichgesinnten wieder auferstehen zu lassen. Im urspr. für das Goethe-Jahr 1932 geschriebenen, autobiographisch geprägten Roman Neuweimar (St. Gallen 1938. 21950) hat S. einen solchen idealistischen Freundeskreis aus jungen, für alles Schöne u. Gute begeisterten Menschen dargestellt, gleichzeitig aber auch schon voller Wehmut das Unzeitgemäße der rückwärtsgewandten Utopie eingestanden: »Die Welt, die Goethe mir geschenkt, versank unter der Sturmflut des Zweifels. [...] - Neuweimar lebte nur noch in der Erinnerung.« Mitgerissen von der nationalen Begeisterung der späten 30er Jahre, gab S. seinem idealistischen Freundeskreis in Der Bund von St. Martin. Ein Roman in Briefen (Bern 1941) ein zweites Mal literar. Gestalt, diesmal aber in betont schweizerischer Ausprägung: Eine Gruppe von Freunden, die Goethe u. Mörike ebenso verehren, wie sie die »Maschinenwelt Europas« verabscheuen, will nach dem Scheitern eines Auswanderungsprojekts »das Ideal im Vaterlande selbst verwirklichen« u. das entvölkerte Bergdorf St. Martin zu ihrem Utopia machen. Vergeblich warnt eine der seltsamen Gestalten des Buchs, der Herzog von Leuchtenberg, Herrscher über die imaginäre Welt einer selbstgebastelten Modellstadt, davor, »aus der Sehnsucht Wirklichkeit im materiellen Sinne zu machen«. Das Unternehmen St. Martin scheitert letztlich ebenso wie S.s Bemühen, über einen kleinen Kreis Eingeweihter hinaus ein Echo für seine quer zum Zeitgeist stehende, kompromißlos traditionalistische Schriftstellerei zu finden. Mit Ausnahme von Bildersäle. Eine Jugend in St. Gallen (Frauenfeld 1977) u. einer Reihe kurzer, formvollendeter Erzählungen, die in limitierten Liebhaberausgaben erschienen (Der ewige Wächter. St. Gallen 1946. 1982. Stab und Stern. Ebd. 1960), blieb sein ganzes, Tausende von Typoskriptseiten umfassendes Werk nach 1945 praktisch ungedruckt u. liegt heute in der Kantonsbibliothek St. Gallen.

LITERATUR: Eduard Stäuble: Liebe u. Freiheit als Lebensraum. [...]. In: K. S.: Der ewige Wächter. St. Gallen 1982, S. 17-40 (mit Bibliogr.).
(Bertelsmann Literaturlexikon)