Monique Saint-Hélier 1895–1955

Am 15. November 1934 berichtete der Neuenburger «Express» gross aufgemacht über den Sensationserfolg einer Einheimischen – «une des nôtres» –, die «sich in Paris und unter dem Pseudonym Monique Saint-Hélier» verborgen halte und mit ihren Büchern das Publikum entzücke. «Bois-Mort» («Morsches Holz») von 1934 und «Le Cavalier de Paille» («Strohreiter») von 1936 waren die ersten Bände des Romanzyklus «Les Alérac», die Berthe Briod-Eimann als von ihrem Mann, Blaise Briod, liebevoll gepflegte Patientin von 1932 bis 1955 im Bett ihres Pariser Krankenzimmers schrieb: ein Riesenwerk, das ganz auf ein imaginäres La Chaux-de-Fonds fokussiert ist und die eigentliche Handlung jeweils auf wenige Stunden einschränkt, während vor dem inneren Auge der Protagonisten die Schicksale ganzer Generationen und Geschehnisse aus Hunderten von Jahren aufscheinen. Am 2. September 1895 in La Chaux-deFonds als Apothekertochter geboren, verlor Berthe Eimann mit drei Jahren ihre Mutter, trauerte ihr aber so lange nach, dass sie noch 1927 ihre literarische Laufbahn unter dem Namen jenes Saint Hélier antrat, der am Geburtstag ihrer Mutter gefeiert wird. Mit elf wurde Berthe Eimann unter Hinterlassung lang anhaltender Komplikationen erstmals operiert, mit 21 machte sie in Lausanne die Matura, mit 22 heiratete sie gegen den Willen der Eltern den reformierten Theologiestudenten Blaise Briod, mit dem zusammen sie noch am Hochzeitstag zum Katholizismus konvertierte. Beide studierten in Bern Literatur, als sie 1920 erneut erkrankte und in der Viktoria-Klinik in einen lebenslang ungelösten Konflikt mit der katholischen Kirche geriet: Der Spitalgeistliche wollte ihr, sekundiert von einem Bischof, den weiteren Empfang von Sakramenten nur erlauben, wenn sie die in ihrem Besitz befindlichen Bücher von Montaigne und Calvin verbrenne. Sie weigerte sich, verzichtete von da an auf Beichte und Kommunion und hielt sich auch an das Schwerste, was die Kleriker verlangten: mit Blaise Briod nie wieder über Religion zu reden. Aus der Klinik entlassen, lernte sie 1923 Rainer Maria Rilke kennen, der ihr zu neuem Selbstbewusstsein verhalf und sie zum Schreiben ermunterte. Als er 1926 starb, fand man auf seinem Pult in Muzot die 24 französischen Gedichte «Les Roses» mit der Aufschrift: «Joie pour toujours («Freude für immer»). «Nous les destinons à Monique» («Wir widmen sie Monique»). Wie ihr erster Roman, «La Cage aux rêves» («Traumkäfig») von 1932, ahnen lässt, setzte ihr Rilkes Tod derart zu, dass sie zu sterben meinte – was der originellen Geschichte ihrer Kindheit und Jugend ein tragisches Ende bescherte. Jedenfalls wurde sie so krank, dass sie nie mehr gehen konnte und während der deutschen Einnahme von Paris 1940 in einer Ambulanz die Flucht ergreifen musste. Als Verleger Grasset sich 1952 entschloss, den AléracZyklus fortzusetzen, zwang er die Autorin, ihr Typoskript für die beiden Bände «Le Martin-pêcheur» («Der Eisvogel», 1953) und «L’Arrosoir rouge» («Die rote Giesskanne», 1955) von 1’600 auf 800 Seiten zusammenzustreichen und so das geheimnisvolle Bezugssystem empfindlich zu stören. Nicht umsonst hiessen die letzten Worte, die Monique Saint-Hélier drei Wochen vor ihrem Tod am 9. März 1955 ihrem Freund Lucien Schwob schrieb: «Ah! les éditeurs – les voilà nos ennemis.» («Ah! Die Verleger – hier sind sie, unsere Feinde.»)


Monique Saint-Hélier

Wer im Kanton Neuenburg zur Welt kommt und es zu etwas bringen will, tut gut daran, ein Pseudonym anzunehmen und nach Frankreich auszuwandern. Den Beweis dafür hat neben Blaise Cendrars, Le Corbusier und Cilette Ofaire nicht zuletzt auch Monique Saint-Hélier erbracht, die aus La Chaux-de-Fonds stammte, eigentlich Berthe Briod-Eimann hiess und sich in den dreissiger Jahren in Paris als Romanautorin einen Namen machte. Obwohl sie nie mehr dahin zurückkehrte, spielte die engere Heimat für ihr Schaffen lebenslang eine wichtige Rolle als Quelle der Inspiration und imaginärer Handlungsraum. Das La Chaux-de-Fonds der Jahrhundertwende ist denn auch, nostalgisch verklärt und phantastisch verfremdet, der zentrale Schauplatz ihres Hauptwerks, der zwischen 1934 und 1955 erschienenen Roman-Tetralogie «Les Alérac». Dass sie dennoch nicht zur Neuenburger Heimatdichterin wurde, dafür bürgten zwei Erfahrungen, die Monique Saint-Héliers Leben früh prägten: die Begegnung mit Rilke und die Konfrontation mit Krankheit und Tod. Sie war dreiunddreissig, als ein mysteriöses Leiden sie für immer ans Bett fesselte und ihr, die zunächst Ärztin und später Malerin hatte werden wollen, einzig noch den Trost des Schreibens und des Sicherinnerns Übrigliess. Bereits ihren Erstling, den autobiographischen Roman «La Cage aux rèves» («Traumkäfig», 1932), schrieb sie in der Gewissheit eines nahen Todes, und mit Ausnahme der frischfröhlichen Kindergeschichte «Quick» von 1954 sind alle ihre Bücher von jenem verhaltenen Ernst geprägt, den Krankheit und Todesnähe ihr aufzwangen. Ihre Romane wären aber kaum denkbar ohne die Seelenverwandtschaft mit Rilke, den sie noch persönlich kennengelernt hatte und dessen bildhaft-magisches Weltverständnis sie sich schreibend zu eigen machte. So entstand, dem Leiden mühsam abgerungen, ein Werk, das Seite für Seite durch die Intensität der Vision, durch die Kraft des Erinnerns, des Träumens und des Fühlens bezaubert, wenngleich die Fäden der Handlung sich oft im Uferlosen verlieren.

Dass die «Alérac»-Tetralogie insgesamt ein Torso geblieben ist, liegt allerdings nicht bloss an der mehr polyphonen als kontinuierlich-logischen Erzählweise der Dichterin, sondern auch an der Verständnislosigkeit, mit welcher der Verleger Grasset ihr begegnete. 1953, als sie die beiden ersten Alérac-Romane «Bois mort» («Morsches Holz», 1934) und «Le Cavalier de Paille» («Strohreiter», 1936) mit «Le martin-pêcheur»(«Der Eisvogel») fortsetzen wollte, zwang er sie, die 1600 Typoskriptseiten auf 400 zu kürzen, so dass zusammen mit dem feinen Bezugsnetz auch das Gesamtkonzept der Romanserie aufs schwerste kompromittiert wurde und die Autorin den folgenden Band, «L'arrosoir rouge» («Die rote Giesskanne»), in ihrer Verzweiflung zum Anfang einer neuen Romanfolge erklärte, obwohl auch er aus Bruchstücken des ursprünglichen Projekts bestand. 14 Tage nach Erscheinen dieses Buches, am 9. März 1955, starb Monique Saint-Hélier. Ihr letzter Brief an Lucien Schwob endet mit den Worten: «Ah, les èditeurs, les voilà nos ennemis.»

In der Edition «Reprinted by Huber» des Verlags Huber Frauenfeld ist als Band 7 die deutsche Übersetzung von «La Cage aux rèves», «Traumkäfig», in der Übertragung von Hedi Wyss und mit einer fast 100-seitigen Monique-Saint-Hélier-Biographie von Charles Linsmayer greifbar.

Die Kriegstagebücher (NZZ am Sonntag vom 26.05.2019)