Margarete Susman 1872–1966

Das schönste und zugleich fraulichste Literaturgeschichtsbuch, das sich denken lässt, ist «Deutung einer grossen Liebe: Goethe und Charlotte von Stein», erschienen 1951 im Artemis-Verlag, Zürich. Und es ist kaum zu fassen, dass die grossartige Hommage an Goethe von der Verfasserin jenes Buches stammt, das nach der fast völligen Ausrottung der Juden 1946 den jüdischen Standort den Deutschen gegenüber trauernd und anklagend neu bestimmte: «Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes». Margarete Susman wurde am 14. Oktober 1872 in Hamburg geboren und verbrachte 51 ihrer 94 Lebensjahre in der Schweiz. «Dieses Land musst du lieben», hatte der Vater dem jungen Mädchen einst gesagt, «es hat politischen Flüchtlingen Asyl gewährt.» Und Adolph Susman gab seiner Tochter Gelegenheit, die Schweiz von jung auf kennenzulernen. Sie verbrachte ihre Schulzeit in Zürich und verliess das Land ihrer Kindheit erst wieder nach dem frühen Tod des Vaters im Jahre 1894. Damals war sie 22, hatte schon einen Band Gedichte veröffentlicht, aber nichts deutete darauf hin, dass sie als eine der bedeutendsten intellektuellen Frauen des deutsch-jüdischen Kulturkreises, als eine Philosophin, Denkerin und Essayistin ausserordentlichen Ranges in die Geschichte eingehen würde. Als sie 1934 zum dritten Mal – 1912 bis 1918 hatte sie mit ihrem Mann, dem Maler Eduard von Bendemann, in Rüschlikon gelebt – in die Schweiz zurückkehrte, war sie dies alles bereits, aber sie war auch einer jener politischen Flüchtlinge, von denen ihr Vater mit Hochachtung gesprochen hatte. Und nun musste sie erfahren, dass es der mittellosen geschiedenen Frau in der Schweiz anders erging als dem reichen Hamburger Kaufmann von 1882. Sie, die fliessend Schweizerdeutsch sprach, musste Monat für Monat ihre Toleranzbewilligung erneuern lassen, auf der immer schon das Ausreisedatum vermerkt wurde. Margarete Susman zeigte die Karte mit der Eintragung «heimatlos, geschieden» einmal dem religiös-sozialen Theologen Leonhard Ragaz, und der meinte einfach: «Das hat man von den Heiligen auch gesagt.» Als sie in Ragaz’ Zeitschrift «Neue Wege» gegen den Faschismus schrieb, verbot ihr die Fremdenpolizei alle «irgendwie politischen Äusserungen» und überwachte von da an ihre Tätigkeit scharf. Eine finanziell dringend benötigte Ehrengabe der Stadt Zürich erhielt sie 1942 nur unter der Bedingung der Verschwiegenheit: In Deutschland sollte niemand erfahren, dass Zürich die jüdische Intellektuelle unterstützte! Dennoch wurde Margarete Susman, die ausser ihrem Emigrantenschicksal auch noch schwere körperliche Leiden zu tragen hatte, nicht verbittert und bewahrte dem Land, das ihr in Todesgefahr Unterschlupf gewährt hatte und wo sie nach 1945 Ehrungen aus aller Welt entgegennehmen durfte, lebenslang die Treue. Sie starb am 16. Januar 1966 in Zürich – kurz nachdem sie als fast Erblindete ihren Weg unter dem Titel «Ich habe viele Leben gelebt» noch selbst dargestellt hatte. Ihre Unbestechlichkeit und Unvoreingenommenheit macht es unmöglich, Margarete Susman für Ideologien in Anspruch zu nehmen. Den Feminismus, der ihr viel zu danken hat, brachte sie mit einem «weiblichen Sein» in Einklang, das Seelenhaftigkeit mit religiösem Grundempfinden verbindet. Dem Zionismus aber widersprach sie, indem sie Zion als «eine himmlische Heimat» bezeichnete, dank welcher die Juden immer schon «übernational» seien. «Wer im Gesetz lebt, der lebt in der wahreren Heimat des Judentums und braucht keine irdische Heimat mehr.»