Charlot Strasser

Überwältigt von Bachs Matthäuspassion, beschliesst der Dichter, für immer zu verreisen und der vergeblich Angebeteten demütig sein ganzes Werk zu hinterlassen: Prosa und Verse, angesiedelt zwischen Zarathustra, Maikäferkoniödie und blossem Studentenulk. Aber ehe es dazu kommt, macht Wagners Tannhäuser den asketischen Vorsatz zunichte. Von ebendieser Musik erregt, reisst er die Widerstrebende nach dem Konzert in die Arme, küsst sie mit Gewalt, stürmt auf sein Zimmer und vergiftet sich. Als sie sein poetisches Vermächtnis bekommt, ist vorne drauf, rosenumkränzt, ihr Konterfei, zuhinterst aber des Dichters Totenschädel abgebildet.
Es lasse sich daraus ablesen, »was Jugend sei, und zwar Jugend von heute«, urteilte J. V. Widmann begeistert, als Charlot Strasser, damals Medizinstudent in Bern, 1904 mit diesem Buch, betitelt Ein Sehnen, debütierte.
Zum Glück bestimmte nicht Ein Sehnen, sondern das 1905 entstandene Revolutionsgedicht Freiheit die Richtung von Strassers weiterem Leben und Schaffen. Die revolutionäre russische Kommilitonin Vera Eppelbaum (1884-1941), in die er sich inzwischen unsterblich verliebt hatte, war mit schwülstigen Versen nämlich nicht zu beeindrucken. Da mussten schon revolutionäres Pathos und kämpferische Gesinnung her, Dinge, auf die sich der gehätschelte Professorensohn nun auf einmal so gut verstand, dass sein Pamphlet, in Massen gedruckt, zu Gunsten der Revolution verkauft werden konnte. Seine Vera aber war damit noch lange nicht gewonnen! Plötzlich ist sie verreist, und er folgt ihren Spuren bis ins hinterste Russland, erleidet unterwegs einen Unfall, der ihn für immer gehbehindert werden lässt, findet die Gesuchte schliesslich, um zusehen zu müssen, wie sie einen andern heiratet. Er gibt auf, sucht Vergessen als Schiffsarzt in Südamerika. Da lässt sie sich scheiden, kehrt zu ihm zurück und wird ab 1913 nicht nur seine Ehefrau, sondern auch 28 Jahre lang seine Partnerin in der gemeinsamen psychiatrischen Praxis in Zürich.
Immerhin hatten die Brautwerberfahrten Strasser persönlich mit den Zuständen in Russland und Asien konfrontiert und lieferten ihm zwischen 1911 und 1918 Stoff für jene sozialen Novellen, die seinen Rang als Erzähler begründeten. Weit problematischer dagegen ist sein Roman Geschmeiss um die Blendlaterne, mit dem 1933 die von ihm mitgetragene Schweizer Büchergilde gestartet wurde. Strasser, der sich auch als Psychiater und Verfechter der Zwangsversorgung von Geisteskranken recht autoritär gab, qualifizierte darin die 1914-1918 Zürich lebenden Literaten des Dada-Kreises als »zu uns desertiertes oder refraktäres Grossstadtliteratengeschmeiss« und ordnete sie kurzerhand den Waffenschiebern und Spionen zu. Nur gut, dass er die unerquickliche linke Tirade gegen »entartete Literatur« bald wieder wettmachte: 1935, mit dem antifaschistischen Pamphlet Die braune Gefahr. Ein Gedicht, das wiederum in Massen verbreitet wurde und auch heute noch durch die Unerschrockenheit beeindruckt, mit der da jemand ohne Vorbehalte und Absicherungen gegen die Unmenschlichkeit Protest erhob.
(Literaturszene Schweiz)