Eine Tessinerin, die zu einer der ganz grossen Dichterinnen Südamerikas wurde? Die Rede ist von Alfonsina Storni, die 1892 im Tessiner Dorf Sala Capriasca zur Welt kam und 1938 in Argentinien starb. Als eine «Bienen-Wespe, die einen verzweifelten Wirbel um ihren eigenen Leib tanzt, ehe sie in einer scheinbar spielerischen Pirouette verblutet», hat die chilenische Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral sie beschrieben. Wobei der «verzweifelte Wirbel» wohl die Umstände meint, unter denen ihre Lyrik entstand. Ab 1896 lebt Alfonsina Storni in Argentinien bei ihrem Vater, der vom Bierbrauer zum versoffenen Wirt herabsteigt, und bei ihrer Mutter, die als Näherin und Lehrerin für das Nötigste sorgt. Mit dreizehn Jahren arbeitet sie in einer Hutfabrik, mit fünfzehn Jahren geht sie mit einem Theater auf Tournee. 1909 schafft sie den Eintritt ins Lehrerseminar von Coronda – aus dem sie fast wieder herausfliegt, als ruchbar wird, wo sie als Tänzerin das Schulgeld verdient. Schon als Zwölfjährige hat Alfonsina Storni zum Ärger der Mutter Gedichte geschrieben, und sie gibt die Leidenschaft auch dann nicht auf, als sie mit der Liebe böse Erfahrungen macht. 1911 ist die Neunzehnjährige, inzwischen Lehrerin in Rosario, heimlich mit einem bekannten Politiker liiert und flieht, schwanger geworden, vor dem Skandal in die Anonymität von Buenos Aires, wo sie das «Kind der Liebe» zur Welt bringt und als Verkäuferin, später als Sekretärin jobbt. 1916 publiziert sie auf eigene Kosten den Erstling «La inquietud del rosal». «Gott möge euch vor der Ungeduld des Rosenstrauchs bewahren», ruft sie den Freunden zu. «Aber ich schrieb, um nicht zu sterben.» 1925, im unerbittlich-kühnen Band «Ocre», erklärt sie dem treulosen Geliebten: «Nicht du bist es, der mich betrügt. Mein Traum betrügt mich, er allein.» Alfonsina Storni ist längst eine Berühmtheit, als sie 1930 zum letzten Mal den Tessiner Geburtsort besucht. Auch Federico García Lorca verehrt sie und umschreibt ihre Traumverlorenheit mit den Worten: «O du Biest, o du Treulose, hast du dich versteckt und ein Nest in deiner Sehnsucht gebaut?» Was am augenfälligsten in den 1926 publizierten «Poemas de amor» geschieht, in denen sie nochmals die Liebe von 1911 evoziert, sich nun aber ganz in den Traum zurückzieht, wo der Geliebte nur noch als «fantasma aeriforme», als «Trugbild aus Luft», zu ahnen ist. Im Übrigen spielt nicht nur da, sondern in ihrem ganzen Werk der Tod die tragende Rolle, und schon in «Ocre» entwarf sie spöttisch ihren Grabspruch: «Die Frau, die unter der Erde schläft / und mit ihrer Grabschrift das Leben verhöhnt, / schrieb, weil sie eine Frau war, auf ihr Grab / eine weitere Lüge: Ich habe genug.» Wie aber geht die «spielerische Pirouette», an der sie laut Gabriela Mistral verblutet ist? «No puedo más», «Ich kann nicht mehr», schreibt sie im Hotelzimmer von Mar del Plata auf ein Blatt, ehe sie am 25. Oktober 1938, unheilbar krebskrank, im Meer den Tod sucht. An ihrem Todestag druckt «La Nación» ihr letztes Gedicht, «Voy a dormir», «Ich gehe schlafen», das den Tod wie ein Wiegenlied besingt, in einem Anflug von Sarkasmus jedoch die Zurückweisung eines letzten Liebhabers andeutet: «Ach, ein Auftrag noch: / Falls er wieder anruft, / sag ihm, sein Drängen sei umsonst, ich sei verreist.»