Karl Stauffer-Bern 1857–1891

Am 21. Februar 1890 beantwortete Lydia Welti-Escher in der Anstalt Königsfelden die Fragen des Psychiaters nach dem Verhältnis zu jenem Mann, mit dem sie 1889 aus der Obhut ihres Gatten Friedrich Emil Welti nach Italien durchgebrannt war: «Ich begehre unsere Beziehung nur fortzusetzen, um etwas Schönes und Grosses zu vollbringen, um zusammen eine wichtige Arbeit zu machen, aber ich möchte nicht ständig mit ihm zusammen sein.» Die Patientin war die Tochter des Eisenbahnkönigs Alfred Escher, die 1883, ein Jahr nach dessen Tod, den Sohn von Bundesrat Emil Welti durch Heirat zu einem der reichsten Männer der Schweiz gemacht hatte. Der Mann aber, mit dem sie «Grosses vollbringen» wollte, war der am 2. September 1857 in Trubschachen geborene Karl Stauffer, der für seine Porträts berühmt war und sich, während er im Escher’schen Familiensitz Belvoir ihr Bildnis malte, in die schöne, aber spröde Millionärin verliebt hatte. «Ich muss ehrlich gestehen, dass ich eine tiefe, innige Liebe nie empfunden habe, weder für meinen Gatten, noch für sonst irgendwen», gab Lydia Welti-Escher in Königsfelden zu Protokoll, während Stauffer, der mit Eschers Millionen in Italien antike Tempel voller diamantenäugiger Statuen hatte bauen wollen, sich im Gefängnis von Florenz schmachtend an den Belvoir-Park erinnerte: «Da hast du meine Rede wohl gelitten / Und Frauen Huld und Liebe mir geschenkt, / Und mich gefangen mit der Blicke Macht, / Dort, wo der See an seine Ufer lacht.» Dass seine hybriden Bauprojekte in blutleeres Epigonentum ausmünden mussten, konnte Lydia Welti-Escher in ihrer bildungsbürgerlichen Beschränktheit nicht erkennen. Und zur Probe aufs Exempel sollte es auch gar nie kommen, denn Stauffer wurde als Mensch zu Fall gebracht, ehe er als Künstler endgültig in die Sackgasse geriet. Auf Bitten seines Sohnes, der ja nicht nur eine Frau, sondern Millionen zu verlieren hatte, mischte Bundesrat Welti ungerührt Familien- mit Staatspolitik und brachte Rom dazu, dass seine Schwiegertochter als geisteskrank interniert und nach Königsfelden verbracht wurde, während man Stauffer wegen Vergewaltigung einer Irren verhaftete und in Ketten nach Florenz schaffte. Damals, im Kerker am Arno, hat Stauffer in tiefster Not zu schreiben begonnen. In von Verwirrung, aber auch von Begabung zeugenden Versen beschrieb er seine Liebe und das Unrecht, das ihm geschehen war: «Das weiss ich, dass der HERR mich in den letzten Wochen stark gepresst hat und dass ich Dichter geworden bin an Leib und Seele.» Obschon er freigesprochen wurde, verfiel Stauffer in der Schweiz, wo die Presse seine mächtigen Gegner zu fürchten hatte, gänzlich der öffentlichen Ächtung. Nachdem auch seine Geliebte dem Druck nachgegeben und sich von ihm losgesagt hatte, starb er am 24. Januar 1891 in Florenz 34-jährig an einer Überdosis Chloral. Lydia Welti-Escher, die nach Überlassung grosser Summen von ihrem Mann geschieden worden war, schickte einen Kranz: «Den Manen meines unvergesslichen Freundes.» Kurz bevor sich die 33-Jährige im Dezember 1891 in ihrer Villa bei Genf das Leben nahm, konnten die Weltis sie noch dazu bringen, ihr übriges Erbe als «Gottfried-Keller-Stiftung» dem Bund zu vermachen, sodass das Legat, das so vieles übertünchen musste, sich mit dem Namen jenes Mannes schmückte, den Stauffer scharfsichtig wie kein zweiter porträtiert hatte: 1886, im Gewächshaus des Belvoir, unter den Augen jener Frau, die ihm zum Verhängnis werden sollte.