Karl Stamm

Er wollte hoch hinaus, der 165 cm lange und 125 Pfund leichte Karli Stamm, dreiundzwanzig, Lehrer der Achtklassenschule Lipperschwendi im hintersten Winkel des Zürcher Oberlands. Das Hohelied war sein literarischer Erstling von 1913 betitelt, und das grossformatige, von Eduard Gubler bibliophil gestaltete Buch wollte nichts weniger als die ganze Welt mit all ihren Kreaturen und Geschöpfen in einen lyrischen Taumel hineinreissen und als mystische Totalität sichtbar machen.
Der Ruhm, den ihm das bemerkenswerte, noch ganz der Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtete Debut einbrachte, zerschlug sich wie so vieles im allgeineinen Desaster, das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges um sich griff. Stamm, inzwischen nach Zürich gewählt, wurde als Grenzsoldat mobilisiert und aus all seinen Bindungen und dichterischen Plänen herausgerissen. Die erste patriotische Begeisterung, der er unter dem Titel Aus dem Tornister, lyrischen Ausdruck gab, war bald verflogen, und dem zermürbenden Hin und Her zwischen Schule, Militärdienst und dichterischer Berufung war der sensible, gesundheitlich angeschlagene junge Mann nicht lange gewachsen. Als er auch noch in der Liebe scheiterte, brach er seelisch und körperlich zusammen und wurde nach langem Spitalaufenthalt zunächst für ein Jahr und ab 1917 dann definitiv als »nerven- und herzkrank« aus der Armee entlassen. Gerade die Krankheit aber machte den Dichter Karl Stamm empfindsam und hellhörig für das ungeheure Leid, das rings um die verschonte Schweiz herum über Millionen Menschen hereingebrochen war. So kam .es, dass er mit seinem Gedichtband Der Aufbruch des Herzens, der zu seinem ästhetisierenden Erstling einen aufwühlenden, fast expressionistisch schrillen Kontrapunkt setzte, quasi das Stichwort liefern konnte für jene Richtung innerhalb der Schweizer Literatur, die im Nachgang zum Kriege der helvetischen Enge entfliehen und sich mit der leidenden Menschheit verbrüdern wollte. Stamm selbst aber überlebte das Erscheinen seines eindringlichsten Buches nur um wenige Wochen. Am 21. März 1919 erlag ermit 29 Jahren der Grippe.
Wer 70 Jahre danach in seinen Werken liest - Eduard Gubler hat sie 1920 in zwei Bänden ediert -, der wird, auch wenn das leidenschaftliche Engagement dieses Dichters noch immer betroffen macht, neben Glanzstücken wie den erschütternden Gedichten Spital und An mein ungeborenes Kind vieles als epigonal und allzu zeitgebunden empfinden. Am nächsten kommt einem Stamm noch in seinen zeitgeschichtlich aufschlussreichen, menschlich ergreifenden Briefen, die Gubler 1931 gesammelt hat. Am lebendigsten aber ist er in einem Werklein geblieben, das weder in der Gesamtausgabe noch bei irgendeinem Biographen Erwähnung findet, das jedoch im Winterthurer Gemsberg-Verlag in sechster Auflage noch immer greifbar ist. Es heisst Das Schlaraffenland und erzählt zu wundervollen Aquarellen von Hans Witzig eine Geschichte, die jeder Kindergeneration wieder neu Freude machen wird.
(Literaturszene Schweiz)