Carl Spitteler 1845–1924

Bei den Zeitgenossen war der am 24. April 1845 in Liestal geborene und am 29. Dezember 1924 in Luzern verstorbene Carl Spitteler aus drei Gründen berühmt: erstens seines legendären, 20 000 Verse umfassenden Epos «Olympischer Frühling» von 1905 wegen – das jedermann dem Namen nach kannte, aber kaum jemand wirklich las –, zweitens, weil er 1914 in Zürich unter dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» eine Rede hielt, mit der er der sympathiemässig zwischen den Kriegsparteien gespaltenen Schweiz zu neuer Geschlossenheit verhalf, und drittens, weil er – nicht des «Olympischen Frühlings», sondern letztlich dieser Rede wegen! – den Literaturnobelpreis 1919 erhielt. Obwohl 1945 bis 1958 in einer zwölfbändigen eidgenössischen Gesamtausgabe vorbildlich ediert, ist von Spittelers lite rarischen Werken heute noch am ehesten der 1906 erschienene schmale Roman «Imago» wirklich lesenswert. Für einmal hat der Meister der Verschlüsselung da nämlich die Schamlosigkeit zum dichterischen Postulat erhoben und beschlossen, «sich nackt vor das Publikum hinzustellen». Der Vorfall, der dem Roman zugrunde lag, hatte sich allerdings bereits 26 Jahre früher zugetragen. 1879 war Spitteler aus Russland in die Schweiz zurückgekehrt und hatte in Bern die Geliebte seiner Träume, die neunzehnjährige Cousine Ellen Brodbeck, als Gattin eines anderen wiedergetroffen. Die junge Frau liess sich – das musste er in jenem qualvollen Jahr, das später den Stoff für den Roman lieferte, einsehen – nicht mehr zurückgewinnen, was ihn aber nicht daran hinderte, das Bild (Imago!), das er sich in der Ferne von Ellen erträumt hatte, lebenslang in sich wachzuhalten und in seinem dichterischen Werk immer neu nachzugestalten. Im Roman lässt Spitteler den Protagonisten Viktor, dichterisch vielfach verfremdet, seine damalige «Imago-Passion» nacherleben und sich schliesslich, das Bild der idealen Geliebten unversehrt im Herzen, tief beschämt aus dem Blickfeld der «Verräterin» wegstehlen. Nicht nur die Geliebte entspricht nicht mehr Viktors idealen Vorstellungen. Die Vaterstadt, in die er nach langen Jahren zurückgekehrt ist, erscheint ihm in ihrer Engherzigkeit und Verlogenheit schlicht als «Hölle der Gemütlichkeit». Hat er in der Fremde «offene Arme, warme Aufnahme, gutwillige Duldung seine Eigentümlichkeit» gefunden, so trifft er hier auf «engherzige Nörgelei, Unfehlbarkeitsdünkel, Verneinung seiner gesamten Persönlichkeit». Was die Liebes geschichte betrifft, so gilt bei aller Sympathie für den unglücklich verliebten Viktor dennoch Spittelers Aussage, er habe den Helden «ins Unrecht gesetzt». Die harsche Kritik, der er das viel beklagte Phänomen der helvetischen Enge unterzieht, trifft dagegen den Nagel immer wieder auf den Kopf. Es hat im 20. Jahrhundert jedenfalls keinen zweiten Roman gegeben, der das Ungenügen an der Schweiz so tiefschürfend und so virtuos formuliert zum Ausdruck gebracht hätte wie Spittelers «Imago». Und dies, obwohl der Roman doch in einem ganz leichten, spielerischen, mit Humor und Ironie nur so gespickten Parlando daherkommt. Furore machte das Buch jedoch nicht zuletzt als psychologisches Fallbeispiel: Sigmund Freud und C. G. Jung nennen in ihrem Briefwechsel, genauso, wie Viktor im Roman es tut, das Herz «Kaninchen» und den Körper «Konrad». Aber nicht nur diese Verulkung, auch der für Jung wichtige Begriff «Imago» lehnt sich an Spittelers Roman an, und nicht zuletzt trug die von Freud ab 1912 herausgegebene psychoanalytische Zeitschrift den gleichen Titel wie Spittelers Meisterwerk.

Literarische Rapporte 11