Zeugenschaft auf zweifache Weise: Manès Sperber (12. Dezember 1905 - 5. Februar 1984)

Einmal nur, im galizischen Schtetl Zablotov, wo er 1905 zur Welt gekommen war und wo er zu den streng gläubigen «Wasserträgern Gottes» gehörte, hat Manès Sperber die Welt als ein Ganzes gesehen. Dann war der Spiegel aufgesplittert und zeigte er nur noch Stückwerk. 1916 floh Sperber mit seinen Eltern nach Wien, wurde Zionist und Schüler des Individualpsychologen Alfred Adler, mit dem er sich später zerstritt, als er den Marxismus zu seiner Weltanschauung machte. Ab 1927 praktizierte er in Berlin und nahm ungläubig staunend die «selbstgewählte Verblendung» der Linken wahr, die am Ende Hitler den Weg ebnen sollte. 1937, mit Stalins Säuberungen, war für ihn die kommunistische Heilslehre endgültig korrumpiert und traute er ab sofort nur noch einer Instanz: dem freien Gewissen des mündigen Menschen. «Zur Analyse der Tyrannis» hiess 1939 das Buch, das Sperbers Ruhm als Essayist begründete. Das eigentliche Vermächtnis des unbestechlich-selbstkritischen, bis zuletzt lernfähigen Zeitzeugen, der nach einem Zwischenspiel als Fremdenlegionär den 2. Weltkrieg in der Schweiz überlebt hatte und dann bis zu seinem Tod am 5. Februar 1984 in Paris lebte, sind aber nicht die theoretischen Arbeiten, sondern zwei epische Grosswerke, an denen er 27 Jahre schrieb: Die Romantrilogie «Wie eine Träne im Ozean» (1950-1961), die aus der Optik seines Alter Ego Dojno Faber romanhaft Aufstieg und Fall des Kommunismus und der Komintern beschreibt, mit zahllosen Figuren und Schicksalen aber zugleich «eines der ganz grossen Bücher des jüdischen Volkes» (so André Malraux) ist. Und die dreibändige Autobiographie «All das Vergangene» (1974-1977), in der er die gleiche Epoche noch einmal, aber nun aus der unverstellten Ich-Perspektive heraus, gestaltet hat, und die nicht nur dem «ermordeten Schtetl» seiner russischen Kinderheimat in wundervollen Bildern und Schilderungen ein Denkmal setzt, sondern auch den tragischen «Irrweg Kommunismus» auf sehr persönliche, eigene Schuld und eigene Verstrickungen offen legende Weise nachvollziehbar macht.

Der Standard vom 17.01.2024