Walther Siegfried

»Gottlob, der Fink hat wieder Samen! Gottfried Keller ist dahin, C. F. Meyer geht dem Greisenalter entgegen - da kommt nun dieser «Jung-Siegfried» gerade recht, die Erbschaft dieser Ritter vom Geiste anzutreten!« Der Kritiker der Dresdener Zeitung war nicht der einzige, der den Aargauer Walther Siegfried nach dem Erscheinen seines sensationellen Erstlings Tino Moralt 1890 zum legitimen Nachfolger Kellers und Meyers erhob. Auch hierzulande erwartete man vom Verfasser dieses Romans, der in Münchner Künstlerkreisen spielt und den unaufhaltsamen Niedergang eines am Werk und an der Liebe scheiternden Schweizer Malers und Dichters darstellt, Höchstes und Grösstes.
Den nachhaltigsten Eindruck aber machte Tino Moralt auf jene reiche junge Baslerin, die Siegfried als Irene porträtiert hat und die im Roman, weil sie ihm anderweitiger Versprechungen wegen nicht angehören kann, den Anstoss für die völlige Verzweiflung des Helden gibt. Der gefühlvolle, das Plüschzeitalter mit aller Intensität heraufbeschwörende Künstlerroman wirkte so stark auf die junge Frau, dass sie ihre Verlobung löste und Walther Siegfried nun doch heiratete.
Reich geworden, konnte er sein Thema im weit schwächeren zweiten Roman Fermont 1893 bereits ins Positive wenden: die Krise des Künstlers endet nicht mehr im Wahnsinn, sondern mit der Selbstfindung in einer zeitgemässen pantheistischen Glaubenswelt à la Friedrich Nietzsche.
Damit aber hatte Siegfried, der in Garmisch-Partenkirchen das Leben eines arrivierten Literaten f'ührte und mit den Grössen des damaligen Kulturlebens freundschaftlich verkehrte, seine literarischen Möglichkeiten weitgehend auch schon erschöpft. Ausser einigen kürzeren Erzählungen (Gritli, Um der Heimat willen), mit denen er sich der aufkommenden Mode entsprechend bewusst dem schweizerischen Lebensbereich zuwandte, ist neben biographischen Texten über Adolf Stäbli oder Cosima Wagner einzig noch seine monumentale dreibändige Autobiographie von 1926-1932 erwähnenswert, die unter dem Titel Aus dem Bilderbuch eines Lebens die eigene, nicht wirklich spektakuläre Lebensgeschichte durch die Darstellung der Zeitumstände und eines mit vielen berühmten Namen aufwartenden mondänen Bekanntenkreises aufwertet.
Wie Jakob Schaffner gehörte Walther Siegfried zu jenen Schweizern, die ihre Dichterlaufbahn auf Biegen und Brechen mit dem wechselvollen Schicksal Deutschlands verknüpften und darum beides erlebten: übergrosse Berühmtheit und vorschnelle völlige Vergessenheit. 1917, als sein Name Rang und Klang hatte, machte Siegfried mit gehässigen antifranzösischen Äusserungen von sich reden. Und 1945 glaubte der bald Neunzigjährige bis zuletzt unverdrossen an Hitlers Endsieg. Dabei war sein Ruhm, der sich noch immer einzig auf den Erstling Tino Moralt gründete, auch in Deutschland längst bis zur Unkenntlichkeit verblasst.

Siegfried, Walther, *Zofingen (AG) 20.3.1858, †Partenkirchen (Bayern) 1.11.1947, Schriftsteller. Der Sohn eines Aargauer Politikers war zunächst kaufmänn. Angestellter in Basel und Paris, ehe er ab 1882 in St.Gallen und dann in München lebte. Seine Erlebnisse in der Münchner Kunstszene bildeten denn auch den Hintergrund für seinen erfolgreichen Erstling »Tino Moralt« (R., 2 Bde., 1890), mit dem er in den Augen vieler Zeitgenossen die Nachfolge G. Kellers als bedeutendster schweiz. Epiker anzutreten schien. Sein zweiter Roman, »Fermont« (1893), den er, durch Heirat reich geworden, als freier Schriftsteller in Partenkirchen schrieb und der das Thema der Selbstfindung eines Künstlers ins Positive wendet, fällt bereits stark ab. Später beschränkte sich S. auf kürzere Erzählungen sowie auf biograph. Darstellungen u.a. von Cosima Wagner (1930). 1926-32 erschien seine Autobiographie »Aus dem Bilderbuch eines Lebens«. Wie schon 1914-18 nahm S. auch 1933-45 in unzweideutiger, bis zuletzt unbelehrbarer Weise für die nationalist. dt. Sache Partei. (Schweizer Lexikon)


Siegfried, Walther

* 20. 3. 1858 Zofingen/Kt. Aargau, † 1. 11. 1947 Partenkirchen/Obb. - Romanschriftsteller u. Erzähler.

Nach Kindheit u. Schulzeit in Zofingen u. Basel lebte der Sohn eines Aargauer Politikers u. Eisenbahndirektors 1880-1882 als Bankkaufmann in Paris, ehe er begann, sich in St. Gallen künstlerisch zu betätigen. 1886 zog S. nach München, wo ihm mit dem Roman Tino Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers (Jena 1890. Bln. 41911. Mchn. 61921) ein vielbeachtetes Debüt gelang. Die in der Münchner Künstlerboheme angesiedelte, breit aufgefächerte Geschichte des mit gewaltigen Visionen ringenden, zunächst erfolgreichen, aber nach einer unglückl. Liebesbeziehung in Verzweiflung u. Wahnsinn verfallenden Malers Tino Moralt wurde von der zeitgenöss., bes. auch der schweizerischen Kritik als ein Werk in der Nachfolge von Kellers Grünem Heinrich gesehen. Eine reiche Heirat erlaubte es S., 1890 als freier Schriftsteller nach Partenkirchen zu ziehen, wo er mit Ausnahme der Jahre 1906-1913, die er in Wildegg bei Aarau verbrachte, bis zu seinem Tod lebte.
S.s zweiter Roman, Fermont (Mchn. 1893. 61922), nahm das Thema des um sein Werk u. seine Berufung ringenden Künstlers wieder auf, brachte es diesmal jedoch zu einem positiven Abschluß: Der Protagonist versöhnt sich mit Gott u. der Welt u. findet in einem unverkennbar von Nietzsche bestimmten pantheistischen Weltganzen einen neuen Lebenssinn. Nachdem S. mit den beiden für die Stimmung des Fin de siècle charakteristischen Romanen offensichtlich seine eigene künstlerische u. menschl. Entwicklung nachgezeichnet hatte, beschränkte er sich in der Folge auf kürzere, vorwiegend schweizerische Themen gestaltende Erzählungen wie Um der Heimat willen (Bln. 1898), Gritli (Mchn. 1904. Zus. mit Ein Wohltäter), Tag- und Nachtstücke (ebd. 1921) oder Der berühmte Bruder (ebd. 1922), ehe er als Erzähler ganz verstummte. Ähnlich wie der ungleich bedeutendere Jakob Schaffner engagierte sich der Schweizer S., der mit Paris vor dem Weltkrieg (Lpz. 1917) einen betrübl. Beitrag zur antifrz. Kriegshysterie lieferte, in beiden Weltkriegen unzweideutig für die dt. Sache.

WEITERE WERKE: Adolf Stäbli als Persönlichkeit. Zürich 1901. - Bilderbuch eines Lebens. 3 Bde., ebd. 1926-32 (Autobiogr.). - Frau Cosima Wagner. Studie eines Lebens. Stgt. 1930.

LITERATUR: Alfred Huber: W. S. Leben, Werk, Persönlichkeit. Sarnen 1955.

(Bertelsmann Literaturlexikon)