Paul Schoeck

Am 13. August 1913 ging Wilhelm Tell dem Naturalismus ins Netz. Gerhart Hauptmann inszenierte ihn am Berliner Künstlertheater auf schweizerdeutsch! Und zwar so, dass Schillers Verse »nach Schweizerart« ausgesprochen und zu Prosa geglättet wurden, während Szenen wie Tells Monolog in der Hohlen Gasse gänzlich wegfielen. Der naturalistische Tell sprach nicht nur kein Hochdeutsch, er redete auch nicht in Versen, und schon gar nicht in lauten Selbstgesprächen!
Acht Jahre später - der Naturalismus war längst überwunden - fand Hauptmanns merkwürdige Idee eine späte Rechtfertigung. Am 6. September 1920 wurde am Zürcher Stadttheater eine schweizerdeutsche Bühnenfassung des Tell-Stoffes uraufgeführt, die einen unverfälschten Dialekt, nämlich den schwyzerischen, benützt und sich als eigenständige Leistung so gut als möglich von Schillers Pathos emanzipiert.
Zwar ist an der bekannten Geschichte wenig geändert, aber alle drei Akte spielen in der gleichen Wirtsstube in Brunnen, wo nach und nach die Kunde von den Ereignissen in Altdorf und Küssnacht eintrifft und wo - als etwas verfrühter Höhepunkt des Stücks - eine dramatische Begegnung Tells mit Gessler stattfindet. Tell ist dabei weder eine heroische Figur noch ein Exponent des Volksaufstands. Er ist trotz leichter Mythisierung ein einfacher Jäger, der mit dem Vogt in Streit geraten ist. »Landamme, hie hed's gheisse: är oder ich; öppis anders häd's da nid z'erwäge gä«, erklärt er Stauffacher, als dieser seiner Tat politische Motive unterschlebt. Obwohl ganz auf die enge Wirtschaft konzentriert, wird das Stück doch auch von der Landschaft sehr stark geprägt und bestimmt. Der Föhn, der See, die Berge, ja die Jahreszeiten sind Bundesgenossen dieser Menschen, die sich der fremden Herrschaft zu erwehren suchen.
Engstirnig national ist dieser schwyzerische Tell jedenfalls nicht. Sein Verfasser, der Architekt Paul Schoeck, ein Bruder des Komponisten, war durch die Greuel des Ersten Weltkriegs zu seinem Stück angeregt worden, und postulieren wollte er damit letztlich nichts anderes als das primitive Lebens- und Freiheitsrecht einfacher Menschen in ihrer angestammten natürlichen Umgebung. Dass man das Schauspiel 1939 zum nationalen Widerstandsstück umstilisierte und ein Otto von Greyerz davon sprechen konnte, hier sei »das Schweizertum an seiner Wurzel gepackt« - das alles geht am Wesen dieses kargen Volksschauspiels vorbei. Schillers Tell für die Schweiz durch ein eigenes »Nationaldrama« ersetzen zu wollen - nichts lag Paul Schoeck, der um die Möglichkeiten und Schwächen seines einzigen Stücks wusste, so fern wie dies! Und doch: sein Tell in Schwyzer Mundart zählt zusammen mit Paul Hallers Marie und Robert und Alfred Fankhausers Chrüzwäg zweifellos zu den überragenden Leistungen des Schweizer Dialekttheaters. Der Urner Maler und Schriftsteller Heinrich Danioth hat übrigens auch die Frage nach der »gültigsten« Tell-Dichtung ein für allemal entschieden: »Schiller dominiert die Schule, Schoeck das Herz. «
(Literaturszene Schweiz)