Das Entsetzen in Gedichte bannen: Nelly Sachs (10. Dezember 1891 - 12. Mai 1970)

Noch 1960, zwanzig Jahre nach der Flucht nach Schweden, als sie erstmals wieder deutschen Boden betrat, brach die Angst so stark aus ihr heraus, dass sie für Monate eine Klinik aufsuchen musste. Konsequent wie kein anderes kreist das Werk von Nelly Sachs um das Entsetzen, das Wörter wie Holocaust oder Auschwitz auslösen. Gefühlvoll-romantisch hatte sie gedichtet, bis das Grauen sich vor ihr auftat. Fünf Tage versagte ihr nach dem Verhör durch die Gestapo die Stimme, und in Schweden, wohin sie dank Selma Lagerlöf 1940 entkam und wo sie bis zu ihrem Tod am 12.Mai 1970 lebte, musste sie ganz neu beginnen, «das Unsägliche in unzulängliche Sprache zu bringen». Der Chassidismus, Martin Buber, Jakob Böhme, Hölderlin, Novalis, die frühe Lyrik des Freundes Paul Celan bildeten den Fundus, aus dem sie zehrte und der ihr zu ihrer ungeheuer kompakten, kargen, schmucklosen und doch visionären Sprache verhalf. «Wohnungen des Todes» nannte sie im gleichnamigen, 1943 entstandenen Gedichtband die KZs, deren Terror sie auch im Mysterienspiel «Eli» beschwor, wo ein Hirte die Deportation der Eltern mit seinem Flötenspiel begleitet und mit dem Gewehrkolben erschlagen wird. Mit dem jahrtausendealten jüdischen Leid brachte 1949 der Band «Sternverdunkelung» die im Rauch der Krematorien versinnbildlichte Shoa in Beziehung, «Flucht und Verwandlung» machte 1959 das Verfolgtsein zum Synonym für das Menschsein überhaupt, während die späten Verse in «Glühende Rätsel» (1964) oder «Teile dich Nacht» (1971) die Beschwörung der traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen bis an den Rand der Sprachlosigkeit trieben. Hass mischte sich nie in die Trauer dieser Dichterin, die 1966 den Nobelpreis erhielt. Vergessen aber konnte sie angesichts des unwiderruflichen Risses, den der Holocaust für sie bedeutete, nie. «Wir drücken eure Hand», endet ihr «Chor der Geretteten». «Wir erkennen euer Auge. / Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied, / Der Abschied im Staub / Hält uns mit euch zusammen.»