Nelly Sachs 1891–1970

Konsequent wie kein anderes kreist das Werk der am 10. Dezember 1891 in Berlin-Schöneberg als Tochter eines jüdischen Fabrikanten geborenen Nelly Sachs um das Entsetzen, das Wörter wie Holocaust oder Auschwitz auslösen. Gefühlvoll-romantische Verse hatte sie zunächst geschrieben, jene des Bandes «Legenden und Erzählungen» etwa, zu deren Veröffentlichung ihr 1921 Stefan Zweig verhalf, Evokationen von Natur und Musik, wie die ewig kränkliche, von Privatlehrern ausgebildete junge Frau sie in ihrer idyllischen Abgeschiedenheit zu erleben vermochte – bis sich 1933, drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, wie für so viele das Grauen vor ihr auftat und die dunklen Jahre anfingen, in denen sie sich unter permanenter Bedrohung durch Hitlers Schergen verbergen musste und sie sich, gewissermassen unter äusserem Zwang, mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen begann. Tagelang versagte ihr nach den Verhören durch die Gestapo jeweils die Stimme, und neben Martin Bubers «Erzählungen der Chassidim» gab ihr die heimliche Beziehung zu einem später im KZ ermordeten verheirateten Mann, dessen Namen sie nie verraten würde, Trost und Kraft. Dank Selma Lagerlöf und einem Bruder des schwedischen Königs konnte sie im Mai 1940, als ihre Deportation bereits angekündigt war, mit der Mutter zusammen im Flugzeug nach Schweden entkommen. Da lebte sie bis zu ihrem Tod am 12. Mai 1970, und da hat sie ganz neu begonnen, «das Unsägliche in unzulängliche Sprache zu bringen». Der Chassidismus, Martin Buber, Jakob Böhme, Hölderlin, Novalis, die frühe Lyrik des Freundes Paul Celan bildeten den Fundus, aus dem sie zehrte und der ihr zu ihrer ungeheuer kompakten, kargen, schmucklosen und doch visionären Sprache verhalf. «Wohnungen des Todes» nannte sie im gleichnamigen, 1943 entstandenen Gedichtband die KZs, deren Terror sie auch im Mysterienspiel «Eli» beschwor, wo ein Hirte die Deportation der Eltern mit seinem Flötenspiel begleitet, bis er von einem SS-Mann mit dem Gewehrkolben erschlagen wird. Mit dem jahrtausendealten jüdischen Leid brachte 1949 der Band «Sternverdunkelung» die im Rauch der Krematorien versinnbildlichte Shoa in Beziehung, «Flucht und Verwandlung» machte 1959 das Verfolgt Sein zum Synonym für das Menschsein überhaupt, während die späten Verse in den Bänden «Glühende Rätsel» (1964) oder «Teile dich Nacht» (1971) die Beschwörung der traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen bis an den Rand der Sprachlosigkeit trieben. Noch 1960, zwanzig Jahre nach ihrer Flucht nach Schweden, als sie zur Verleihung des Meersburger Droste-Preises erstmals wieder deutschen Boden betrat, brach die Angst so stark aus ihr heraus, dass sie für Monate eine Klinik aufsuchen musste. Und doch: Hass mischte sich nie in die Trauer dieser Dichterin, die 1966 – gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon – den Literaturnobelpreis erhielt. Vergessen aber konnte sie angesichts des unwiderruflichen Risses, den der Holocaust für sie bedeutete, nie. «Wir drücken eure Hand», endet ihr «Chor der Geretteten». «Wir erkennen euer Auge. / Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied, / Der Abschied im Staub / Hält uns mit euch zusammen.»