Daniel de Roulet *1944
Auf dem Genfersee kreuzt 1996 wie jeden Sommer der Salondampfer des Industriellen Paul vom Pokk. Der Milliardär von der
Zürcher Goldküste ist bald hundert Jahre alt, hat aber die Holding «Blaues Wunder» mittels eines
Computers, der alle kontrolliert und in dem alle Fäden zusammenlaufen, fest im Griff. «Simuletten» sind der
neuste Hit, dem die Kinder weltweit verfallen, darunter auch Pauls Urenkelin Kumo. Aber was ist mit den Gerüchten, dass
das Spiel Epilepsie auslöst? Als er am Ufer spielende Kinder wie in einem Anfall zu Boden fallen sieht, erliegt er der
Täuschung und erschiesst sich. «Bleu siècle» («Blaues Wunder») ist Band 2 von Daniel de
Roulets sieben Teile umfassender blauer Romanserie. Aber schon er allein macht klar, dass da einer die Möglichkeiten der
Elektronik, den «Big Brother» aus Orwells «1984» Realität werden zu lassen, ebenso ernst nimmt
wie die Bedrohungen, die aus der Globalisierung und der Dominanz der Wirtschaft über die Politik erwachsen. Daniel de
Roulet, am 4. Februar 1944 als Pfarrerssohn in Genf geboren und in Saint-Imier aufgewachsen, ist selbst Nachkomme von
Zürcher Industriellen, und er hat nicht nur die Möglichkeiten der Technik und Elektronik, sondern auch deren
Kehrseite von Grund auf kennengelernt. Studierter Architekt, war er seit 1975 einer der ersten professionellen Informatiker,
entwickelte Polizeicomputer, machte sich aber bei Demonstrationen gegen die Franco-Diktatur früh als linker Terrorist
verdächtig. 1995, als er den Fichen-Roman «Double» schrieb, erhielt er 3,3 Kilogramm Polizeiakten zur
Einsicht – Dokumente, die sein Leben seit 1964 minutiös genau protokollierten, aber den einzigen wirklich terroristischen
Akt, die Brandschatzung am Gstaader Chalet von Axel Springer im Jahre 1975, völlig übersahen. Ob im Kampf gegen die
Atomlobby, ob in Sachen Aufarbeitung der Vergangenheit, ob im Einsatz für Unterdrückte und Benachteiligte: Daniel de
Roulet nimmt das Engagement des Intellektuellen mindestens so ernst wie sein Vorbild Max Frisch, in dessen New Yorker Wohnung
er eine Zeit lang wohnte. Die Leistung aber, die bleiben wird, sind seine «blauen Romane», die dem
Internetzeitalter den Spiegel vorhalten wie Balzacs «Comédie humaine» einst der Pariser Bourgeoisie. Ausser
« Bleu siècle» von 1996 sind das: «La ligne bleue» («Die blaue Linie») von 1995, wo
der New-York-Marathon mit dem Attentat auf das AKW Kaiseraugst von 1979 in Beziehung gesetzt ist und die
japanisch-schweizerische Romanfamilie vom Pokk erstmals auftritt. «Gris-bleu» («Blaugrau») von 1999,
der Roman der Wolkenforscherin Vania vom Pokk und des japanischen Genforschers Tsutsui, der einer weltweiten Gen-Mafia auf die
Schliche kommt. «L’homme qui tombe» («Sturz ins Blaue») von 2005, wo der Nuklearingenieur Georg vom
Pokk in der Begegnung mit der Tschetschenie -rin Tschaka zum Kämpfer für Recht und Freiheit wird. «Kamikaze
Mozart» (2007), wo der Name Mozart auf dem Kamikaze-Flugzeug prangt, mit dem Tetsuo Tsutsui, der künftige Gemahl
der am Konservatorium von Berkeley studierenden, später in Nagasaki getöteten Musikerin Famika, 1942 auf den
US-Flugzeugträger Enterprise niederstürzt. Und schliesslich «Fusions» von 2012, wo der Globalismus
Triumphe feiert und Fumikas Tochter Shizuko mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl konfrontiert ist. Und jedes Mal wird auf
eine Weise erzählt, die das Reale nicht einfach in Fiktion umsetzt, sondern es so ins Mögliche verlängert, dass
einem ob der Konsequenzen Hören und Sehen vergeht.
Beitrag im Bieler Tagblatt vom 09.05.2019
Beitrag in den CH-Medien vom 07.11.2021
Beitrag im Bieler Tagblatt vom 21.06.2022