Traurige Seelen auf Tauchstation: Georges Rodenbach (1855-1898)

«Welch unerklärliche Macht hat doch die Ähnlichkeit, dachte Hugo. Sie entspricht den beiden widersprüchlichen Grundbedürfnissen der Menschennatur: der Gewohnheit und der Sucht nach Neuem.» Hugo Viane ist der Protagonist von «Bruges-la-morte», dem 1892 erschienenen symbolistischen Roman par excellence. Nach dem Tod seiner Frau hat Hugo sich mit deren Reliquien nach Brügge zurückgezogen, in die tote Stadt, von der das Meer sich abgewandt hat und die in ihrer nostalgischen Tristesse ein Abbild der Todessehnsucht ist, die er bewusst kultiviert. Als ihm die Schauspielerin Jane begegnet, die der toten Frau verblüffend ähnlich sieht, überträgt er die morbide Verehrung auf sie, erwürgt sie am Ende aber in ohnmächtigem Zorn, als sich die Ähnlichkeit als Chimäre erweist und die vulgäre Person die heiligste Reliquie, das Haar der Toten, entweiht. Brügge, die dunkle Nekropole, hat die Tote gerächt, indem sie die Lebenden dazu brachte, sich gegenseitig zu zerstören. Georges Rodenbach, geboren am 16. Juli 1855 in Tournai, gestorben am 25. Dezember 1898 in Paris, verkörperte zusammen mit dem Nobelpreisträger von 1911, Maurice Maeterlinck, den an Baudelaire geschulten und mit Mallarmé verwandten schwermütig-pessimistischen flämischen Fin-de-Siècle-Symbolismus. Obwohl «Das tote Brügge» den Namen am stärksten wachhält, sind Rodenbachs grösste Leistungen anmutig-triste Verse wie diejenigen der späten Zyklen «L'âme sous-marine» und «Le soir dans les vitres». Verse, in denen Motive wie Glas, Wasser, Spiegel, Teich und Aquarium Erfahrungen wie Abgeschlossenheit, Einsamkeit, Krankheit und Tod wachrufen. Wie im 14. Gedicht des letzterwähnten Zyklus, «Dans les vitres», das mit der folgenden wehmütig-todestrunkenen Evokation der Abenddämmerung endet: «L'obscurité se hisse en tentures de deuil / Autour du lit de tulle où gît le jour livide / Puis tout finit dans la fenêtre qui se vide / Comme si le jour mort était mis au cercueil.»