Charles-Ferdinand Ramuz

»Littérature romande? Connaîs pas!« konnte noch »um 1900 der Pariser Kritiker Jules Lemaître ungestraft behaupten. Die Romands waren »Provinzler«, die das Pariserische nachahmten und denen man das immer auch anmerkte, bis, ja, bis Charles Ferdinand Ramuz auf den Plan trat und der Romandie erstmals eine unverwechselbare eigene Stimme verlieh.
Bald 85 Jahre sind nun vergangen, seit Ramuz den Roman-Erstling Aline publiziert hat, und obwohl er ihm mit Aimé Pache, peintre vaudois, La Séparation des races, La grande Peur dans la montagne, Farinet ou la fausse monnaie, Adam et Eve, Derborence, Si le Soleil ne revenait pas oder La Guerre aux papiers viele weit gewichtigere Werke folgen liess, vermag diese einfache ländliche Geschichte den Leser noch immer auf ganz besondere Weise in ihren Bann zu zwingen. Woran das wohl liegen mag? Ist es die unaufhaltsame Konsequenz, mit der das Geschehen seinen Lauf nimmt? Ist es die Figur dieser Aline mit ihrem einfachen Gemüt und ihrem spröden Charme?
Kaum siebzehn, lernt sie mit Julien, dem Bürgermeisterssohn, heimlich die Liebe kennen. Und als er ihrer überdrüssig ist, fehlt ihr auf einmal »das, was das Leben wieder süss macht, wenn einmal die Kindheit, die wie Zucker schmeckt, vorbei ist«. Naiv und ahnungslos ringt Aline, die Tochter einer armen :Witwe, um den nichtsnutzigen, aber reichen Julien. Doch als sie sich schwanger fühlt, wird ihr Werben zu einem Ringen auf Leben und Tod. Julien weist die Schwangere unbarmherzig von sich, und damit sind die Weichen gestellt: Kindsmord und schliesslich Selbstmord stehen am Ende des Weges, auf den Aline sich gedrängt sieht. Als Kind und heimliche Geliebte tot sind, feiert Julien Hochzeit mit der »anderen«, der reichen, standesgemässen Braut ...
Man hat Aline, vielleicht weil eine frühe Versfassung in Weimar entstand, mit der Gretchen-Tragödie in Goethes Faust verglichen. Aber nicht in Weimar, in Paris hatte Ramuz nach eigener Aussage gelernt, dass sich der Autor »so geben sollte, wie er wirklich ist«. Und zweifellos ist in Aline mehr wirklich Erlebtes, Persönliches enthalten, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Jedenfalls soll Ramuz bis zuletzt nicht ohne innere Bewegung aus dem Roman vorgelesen haben, und ursprünglich empfand er die Geschichte sogar als derart intim, dass er sie, wäre er nicht auf das Honorar angewiesen gewesen, am liebsten gar nicht veröffentlicht hätte. Am 13. September 1904, am Tage der Vollendung des Manuskripts, schrieb Ramuz in sein Tagebuch: »Wenn ich unabhängig wäre, würde ich Aline tief in eine Schublade schliessen. Aber ich kann es nicht, die Notwendigkeiten des Lebens sind manchmal grausam; ich muss den Leuten mit diesem Buch unter die Augen treten - glücklicherweise wird niemand es lesen. «

Aline ist französisch bei Bernard Grasset, Paris, und deutsch in der Übersetzung von Y. und H. Meier bei Huber, Frauenfeld, greifbar. (Literaturszene Schweiz)

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 19.07.2019

Literarische Rapporte vom 22.07.1989