«Keine wirkliche Bereicherung»: Alfred Polgar (1873-1955)

Vom 30.Juni 1938 hat sich ein Brief erhalten, in dem der Schweizerische Schriftstellerverein SSV der Fremdenpolizei der Stadt Zürich beantragt, einem jüdischen Bürger des kurz zuvor von Hitler anektierten Österreich die Erwerbsbewilligung als Journalist zu verweigern. Das Schaffen des 63jährigen, der sich «als talentierter Schriftsteller eigener Art in gewissen Kreisen einen Namen gemacht» habe, sei «nicht von derartiger Bedeutung, dass es eine wirkliche Bereicherung des geistigen Lebens unsereres Landes darstellte.» Der Mann, dem die Arbeitsbewilligung selbstredend verweigert wurde und der darauf nach Paris zog, wo er als Werbetexter für eine Schweizer Zigarettenmarke arbeitete, ehe er nach dem deutschen Einmarsch auch da fliehen musste und auf abenteuerlichem Weg nach Spanien und von da aus in die USA gelangte, wo er Drehbücher für MGM schrieb - dieser Mann hiess Alfred Polgar und war zwischen 1905 und 1933 in Wien und Berlin einer, wenn nicht der bedeutendste Theaterkritiker gewesen. Ein Kritiker, der nicht wie Alfred Kerr für die politische Intelligenz oder wie Herbert Ihering für die Fachwelt, sondern der, präzis, exakt und klar aus der Perspektive und für das Verständnis des theaterbegeisterten Laien schrieb. Daneben war Polgar, ein typischer Berliner und Wiener Kaffeehaus-Literat, mit seinen Glossen und Skizzen ein unnachahmlicher Meister der kleinen Form, frönte aber nie dem reinen l'Art pour l'Art, sondern sah sich in unbedingt humaner, aufgeklärter Gesinnung schon im 1.Weltkrieg auch und gerade den Opfern der staatlichen Macht und Willkür verpflichtet. Polgar, der, Ironie des Schicksals, am 24.April 1955 im Zürcher Hotel Urban starb, behandelte gelegentlich auch das für ihn so schmerzliche Thema Exil. In der Glosse «In der Fremde» z.B., die am 7.April 1938 verbotenerweise in der Berner Zeitung «Die Nation» erschien und mit dem Satz endete: «Oh Fremde, wie bist du reizvoll - für den, der eine Heimat hat!»