Robert Musil 1880-1942
Die Verlorenheit, Vereinsamung und Orientierungslosigkeit des modernen Menschen hat ihre bis dahin wohl tiefgründigste
literarische Gestaltung in Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» gefunden. Am Beispiel der zum Untergang bestimmten
Donau-Monarchie führt der Roman dem Leser einen «besonders deutlichen Fall der modernen Welt» vor Augen und unterstreicht
deren Zerrissenheit und Bodenlosigkeit implizit durch die fragmentarische, ins Uferlose auswuchernde Form, in welcher der
Autor sein Werk hinterlassen hat. Zwei Bände waren bereits erschienen, ein dritter in Vorbereitung, als Hitlers Einmarsch
in Österreich Musil zur Emigration zwang und der Dichter auf dem Weg nach Amerika in der Schweiz hängenblieb, einem
Land also, wo nach seinen Worten «immerhin etwas Deutschähnliches gesprochen wird». In Zürich und später in
Genf fand Musil zwar tatsächlich eine relativ ruhige Unterkunft, Freunde wie Robert Lejeune hielten ihn finanziell
über Wasser, und die Fremdenpolizei fand sich widerwillig bereit, die Eheleute Musil als Emigranten zu dulden. Das Klima
des Verständnisses und der Anerkennung aber, das der sensible, schwierige Mann brauchte, um arbeiten zu können, das
suchte er in der Schweiz vergeblich. Während mediokre helvetische Heimatdichter im Zeichen der geistigen
Landesverteidigung zu Genies emporstilisiert wurden, blieb Musil, der zurückgezogen um sein monumentales Romanwerk rang
und bei den seltenen öffentlichen Auftritten dem erwarteten Klischeebild des charmanten, leutseligen Wieners nicht zu
entsprechen vermochte, vom schweizerischen Kulturleben praktisch ausgeschlossen. Voller Verbitterung beschrieb er im postum
publizierten Tagebuch seine Gastgeber so, wie sie ihm entgegentraten: «Die Schweizer haben keinen Respekt vor dem Fremden
(lies das Fremde)! Darum auch ihr Misstrauen gegen den Fremden, ausgenommen, er imponiert durch Reichtum; jeder andere Fremde
ist ein Zigeuner.» Der schweizerischen Literaturkritik aber schrieb er ins Stammbuch: «Man ist solide im Urteil und hält
den Toten die Treue, ob sie nun Keller, Meyer, Rilke oder Hofmannsthal heissen; auch ich fühle mich einigermassen sicher,
dass man einst meinen Schweizer Aufenthalt wohlgefällig buchen wird, aber erst auf seinen Tod warten zu müssen, um
leben zu dürfen, ist doch ein rechtes ontologisches Kunststück!» Die Schweiz ist Robert Musil in schwerer Zeit nicht
zur Heimat geworden, sie hat von seinem hohen dichterischen Rang nichts wissen wollen und ist seiner äusseren und inneren
Vereinsamung mit nichts entgegengetreten. Musils einsamer Tod in einer Mansarde der Genfer Nurse-Schule Pouponnière,
wohin man ihn im Gefolge eines Hirnschlags gebracht hatte, bedeutete nichts anderes als die tragische letzte Konsequenz seiner
Flucht in ein unwirtliches Land. Die Krankenschwester Lies Sandoz-Buergi, die Musil in der Morgenfrühe des 15. April 1942
nach einem einsamen Todeskampf leblos in jener Dachkammer vorfand, erinnerte sich noch 35 Jahre später an seine «weit
aufgerissenen gebrochenen Augen", in denen sich «alle Angst der letzten Lebensjahre, alle Fluchtversuche, alle Auflehnung,
Verzweiflung und Resignation» gespiegelt habe.
Notizen zum Thema Schweiz