Walter Muschg

*Witikon (ZH) 21.5.1898, †Basel 6.12.1965, Germanist und Schriftsteller. Nach dem Germanistikstudium in Zürich und Berlin war der Sohn des literar. ambitionierten Primarlehrers Adolf M. sen. und ältere Halbbruder von Adolf M. ab 1929 PD in Zürich und ab 1936 Prof. für dt. Literaturgeschichte in Basel. 1939-43 vertrat er den Basler Landesring im NR. Als Literaturforscher kam er von der Psychoanalyse her und gewann daraus tiefe und überraschend moderne Einblicke in das unbewusste, myth. Wesen des literar. Textes. Das befähigte ihn sowohl im Bereich der zeitgenöss. Avantgarde als auch in der älteren Literatur (Gotthelf, ma. Mystik) zu neuartigen, oft auch provokativen, in ihrem leidenschaftl. Engagement für das künstler. Wort und die Tragik des Dichters jedoch stets überzeugenden Interpretationen. Mit »Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers« (1931) gelang es ihm, den lange als Berner Heimatdichter verharmlosten Epiker unter die grossen Autoren der Weltliteratur einzureihen. Im Bd. »Mystik in der Schweiz« (1936) erarbeitete er jene Urformen des Dichterischen, die er in seinem wohl bedeutendsten Werk, der nicht nach Gattungen oder Epochen, sondern nach der seel. Befindlichkeit der Dichter geordneten »Trag. Literaturgeschichte« (1948), konsequent anwandte. 1956 machte M. mit seinem Essayband »Die Zerstörung der dt. Literatur« Furore, der erstmals nach 1945 mit Nachdruck auf die »verbrannten Dichter« des Expressionismus hinwies. Innerhalb der schweiz. Germanistik stellte M. den Sonderfall eines für die neuesten literar. Strömungen, aber auch für die polit. und soziale Not der Zeit aufgeschlossenen Hochschullehrers mit fast charismat. persönl. Ausstrahlung dar. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Tragik, dass seine letzten Jahre durch die gehässige Auseinandersetzung um jene (sachl. durchaus berechtigte) Kritik überschattet waren, die er 1954 gegenüber den Gotthelf-Bearbeitungen von E. Balzli und des Schweizer Radios erhoben hatte. … Lit.: M.-Zollikofer, Elli (Hg.): W.M. Die dichter. Phantasie, Bern 1969 (mit Bibliographie). (Schweizer Lexikon)



Muschg, Walter

* 21. 5. 1898 Witikon bei Zürich, † 6. 12. 1965 Basel. - Literarhistoriker u. Essayist.

Der Lehrerssohn u. Halbbruder von Adolf Muschg machte erstmals mit seiner Zürcher Dissertation Kleist (Zürich/Lpz. 1923) von sich reden, begegnete in den 20er Jahren in Berlin den Exponenten der expressionistischen Literatur u. habilitierte sich 1929 in Zürich mit der vielbeachteten Antrittsvorlesung Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (Bln. 1931). Als Privatdozent befreite er mit Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers (Mchn. 1931) den »schweizerischen Homer« von den Verharmlosungen als patriotischer Heimatdichter u. stellte ihn erstmals neben die großen Autoren der Weltliteratur. In Mystik in der Schweiz (Frauenfeld 1936) beleuchtete er die Kernfrage des Mystischen anhand eines regional u. zeitlich begrenzten, genau erforschten Phänomens u. gewann daraus z. T. auch jene Urformen des Dichterischen, die den Aufbau seiner Tragischen Literaturgeschichte (Bern 1948. Revidiert 31957) bestimmten. Wie kein anderes seiner Werke zeigt dieses Buch M.s ethisch-moralisches, auf den Dichter als tragische Gestalt ausgerichtetes Literaturverständnis. Im Erscheinungsjahr seiner Literaturgeschichte war M., ein hervorragender akadem. Lehrer, bereits seit zwölf Jahren Ordinarius in Basel u. hatte während des Kriegs seiner Auffassung von der Literaturwissenschaft als moralischer Disziplin auch außerhalb seines Fachgebiets, als Nationalrat u. Politiker, auf vielfache Weise Beachtung verschafft.
Der Gelehrte, der 1933-1945 immer wieder gegen die restriktive Schweizer Asylpolitik aufgetreten war, setzte sich nach 1945 mit allem Nachdruck für die Rehabilitierung von »verbrannten Dichtern« wie Loerke, Barlach, Döblin oder Jahnn ein, vermochte allerdings, obwohl sein Buch Die Zerstörung der deutschen Literatur (Bern 1956. Erw. 31958) großes Aufsehen erregte, mit seiner am Expressionismus orientierten Theorie nicht gegen die restaurativen Tendenzen der damaligen Germanistik durchzudringen. Als große Enttäuschung empfand er 1954 auch die Reaktion der Öffentlichkeit auf seine Kritik an der Gotthelf-Vermarktung durch das Schweizer Radio u. Ernst Balzli, die den großen Epiker einmal mehr zum biederen Dialekt-Heimatdichter verharmlost hatten. Erst heute wird sichtbar, wie modern M.s maßvoll psycholog., der Kunst eine existenzielle Dimension zuerkennende u. von Liebe u. Engagement getragene Forschungsmethode gewesen ist.

WEITERE WERKE: Jeremias Gotthelf. Eine Einf. in seine Werke. Bern 1954. - Dichtertypen. Basel 1954. - Goethes Glaube an das Dämonische. Stgt. 1958. - Schiller. Die Tragödie der Freiheit. Bern 1959. - Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus. Mchn. 1961. - Studien zur trag. Literaturgesch. Bern 1965. - Gestalten u. Figuren. Hg. Elli Muschg-Zollikofer. Bern 1968. - Pamphlet u. Bekenntnis. Aufsätze u. Reden. Hg. Peter André Bloch. Olten 1968. - Die dichterische Phantasie. Hg. E. Muschg-Zollikofer. Bern 1969 (mit Bibliogr.).

LITERATUR: Louis Wiesmann: Ein Literaturwissenschaftler als Gewissen seiner Zeit. Zum Tode v. W. M. In: Basler Stadtbuch (1967), S. 140-147.
(Bertelsmann Literaturlexikon)

Literarische Rapporte 2 vom 18.02.1989