Jude, Deutscher und Anarchist: Erich Mühsam (1878-1934)
«Wenn ich nach Jahren wieder einmal nach Ascona komme und finde es bewohnt von Menschen, die durch Zuchthäuser geschleift, zerschunden von den Schikanen der Besitzenden und ihren Exekutionsorganen, dem Staat, der Polizei und der Justiz, endlich doch hier eine Heimat und eine Ahnung von Glück erlangt haben, dann will ich mich von ganzem Herzen freuen.» Die Utopie von der Rettungsinsel Ascona ging nicht in Erfüllung: weder für die Gewaltopfer generell, noch für Erich Mühsam selbst, der mit diesen Worten nach einem Monté Verità- Aufenthalt 1905 seine Broschüre «Ascona» beendete.
Der jüdische Lübecker Apothekersohn war als Sozi vom Gymnasium geflogen, lebte in Berlin und in Schwabing als Journalist und erklärter Anarchist, kämpfte gegen jegliche Form von Repression und ab 1914 gegen den Krieg, vor dem er früh gewarnt hatte. 1919 wegen Beteiligung an der bayerischen Räterepublik zu 15 Jahren Haft verurteilt, kam er 1924 vorzeitig frei. In Reden, Büchern, Gedichten, Dramen (darunter «Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti») setzte er sich weiterhin für «die Befreiung der Gesellschaft vom Staat» ein. 1933, als Hitler an die Macht kam, wurde er sofort verhaftet und nach Plötzensee (wo die berührenden «Verse und Bilder für Zenzl» entstanden) und dann ins KZ Oranienburg deportiert. Dort brachte die SS den inzwischen 56jährigen am 10.Juli 1934 auf einem Abort auf bestialische Weise um.
Was bleibt, ist ein lyrisches Œuvre, das in seiner engagiert-unbestechlichen Art als ein Höhepunkt der deutschen politischen Lyrik zu gelten hat, und die Erinnerung an einen Mann, der bis zuletzt kompromisslos für Freiheit und Menschenwürde einstand, obwohl er sich keinerlei Illusionen machte. Nicht einmal über die Schweizer, denen der steckbrieflich gesuchte Anarchist ins Stammbuch schrieb: «Ja, du hältst rein dir deine Bude, / der du ein Schweizer bist und Christ; / schmeisst raus den Fremdling, der ein Jude - / und noch dazu ein Deutscher ist.»