Gerhard Meier

Wer Gerhard Meier besucht, betritt literarischen Boden. Niederbipp, sein dem Jurahang vorgelagerter Wohnort, ist jenes Amrein, das er Baur und Bindschädler in der nach ihnen benannten Romantetralogie beim Flanieren durch Olten immer wieder evozieren und beschreiben lässt. Und die Tatsache, dass die Strasse, an der er wohnt, seinen Namen trägt, macht unübersehbar deutlich, dass die Kunde von Gerhard Meiers literarischem Ruhm inzwischen längst auch nach Niederbipp gedrungen ist, wo er vor seinem späten Eintritt in die Literatur 33 Jahre in der Lampenfabrik gearbeitet hat und wo er, nachdem vor zwei Jahren Dorli, seine Frau, gestorben ist, nun allein im Haus seiner Kindheit lebt. Fast etwas feierlich ist einem zu Mute, wenn ihm in seiner niederen Stube gegenüberzusitzt, Fragen zu formulieren beginnt und beglückt erkennen darf, was schon Werner Morlang zu seinen «Amreiner Gesprächen», diesem unvergleichlichen Dokument zu Meiers Leben und Werk, motiviert haben muss: dass der Gesprächspartner genau so eindrucksvoll und sprachgewandt ist wie der Dichter in seinen Büchern.
Um das Theaterstück geht es, das Gian Manuel Rau und Karl-Heinz Ott aus Texten von Meiers «Baur und Bindschädler»-Tetralogie («Toteninsel», 1979; «Borodino», 1982; «Die Ballade vom Schneien», 1985; «Land der Winde», 1990) montiert haben und das am 27.Januar im Züricher Neumarkt-Theater unter dem Titel «Am liebsten wäre man Birken zählen gegangen» Premiere haben wird. Es seien, seines dialogischen Schreibens wegen, schon früher Leute zu solchen Projekten verlockt worden, erzählt Meier, aber er habe das immer abgelehnt, weil er selber hätte mitmachen müssen. «Diesmal ist es genau nach meiner Art gelaufen. Ich wurde zwar, im Frühjahr 1998, angefragt, ob ich die Erlaubnis für eine Textcollage und eine Aufführung gebe – wozu ich ja gesagt habe, handelt es sich doch immerhin um das Neumarkt-Theater, das einen guten Ruf hat. Aber man hat mich dann nicht einbezogen und mir alles zugedeckt gelassen, so dass ich jetzt hingehen und mich überraschen lassen kann.»
Angst, es könnte mit seinen Texten etwas gemacht werden, was nicht in seinem Sinne wäre, hat Meier nicht. «Es entsteht ja da quasi etwas Neues. Ich bin selber hysterisch freiheitlich veranlagt, und wenn die Leute mit meinen Texten etwas machen wollen, dann räume ich auch ihnen diese Freiheit ein. So entsteht etwas Neues, inspiriert durch meinen Text.» Dass die geplante Collage so oder so für ihn charakteristisch sein werde, davon ist Meier überzeugt. «Drei Sachen sind es, die für mein Schreiben wichtig sind: der Sprachfluss, die Struktur, die sich in Anklängen und Wiederholungen zeigt, und die Musikalität, und das kommt auch unabhängig von den gewählten Inhalten zur Geltung.»
Dass die Theaterleute mit den ausgesuchten Ausschnitten auch inhaltlich-thematisch wesentliche Aspekte von Meiers Denken und Schreiben getroffen haben müssen, zeigt sich, als wir über dem Textheft sitzen und Meier sich von den einzelnen Partien der Collage zu immer wieder zu wesentlichen Aussagen über sein Schreiben und Denken anregen lässt.
Gleich schon das erste Bild, das die Vorführung eines Films über Sacco und Vanzetti beschreibt und als wesentliches Moment eine riesige Uhr evoziert, die unerbittlich auf den Zeitpunkt der Hinrichtung hin weiterläuft, führt uns auf ein wichtiges Thema: auf das Soziale, Gesellschaftliche – und darauf, dass Meier seiner einfachen Herkunft zum Trotz nicht zum Revolutionär geworden ist. «Es gibt meines Erachtens noch wichtigere Angelegenheiten als das Soziale», meint er, «und ich sage das als ein Mensch der unteren sozialen Schicht. Das Soziale, das ungeheuer wichtig ist, gehört zum Anstand, zum Menschsein, es gehört sich, dass man quasi vegetativ sozial ist, sich sozial verhält. Aber daraus eine Religion zu machen, das ist schlichtweg läppisch. Ich bin kein Revolutionär geworden, weil ich erlebt habe, dass Leute, die gewohnt waren, nach dem Znüni die Brosamen in die hohle Hand zu wischen und herunterzuschlucken, auch wenn sich da und dort ein Stückchen feiner Draht dazumischte, friedvoller gelebt haben als die, die ein Mehrfaches verdienten.»
Karneval als Bild des Lebens
Mehrmals kommt in der Collage das Phänomen des Karnevals vor, der vor allem in «Borodino» eine wichtige Rolle spielt, Karneval in Basel und Rio, «am innigsten» aber im Dorf. «Der Karneval hat mich als Kind einerseits zutiefst erschreckt und anderereits zutiefst erregt und aufgewühlt und beglückt», erinnert sich Meier. «Und ich habe mit der Zeit gespürt, dass er ein wunderbares Bild unseres Zustandes ist. Ich glaube, wir sind alle Teilnehmer am grossen Karneval und tragen Masken, und vielleicht sind wir während des Karnevals nicht maskiert und während der übrigen Tage maskiert…»
Auf das 4.Bild der Collage, «Leichenmahl», angesprochen, kommt Meier auf den Kreislauf von Werden und Vergehen zu sprechen. Von Tragik redet er nicht gern, es hat ihn vielmehr immer das Selbstverständliche an diesen Dingen interessiert. «Ich glaube, die Tragik zeigt sich wie die Poesie im scheinbar Verborgenen. Wenn sich die Poesie als Poesie aufblustert, wird sie unglaubwürdig, und ich glaube, auch das Tragische verliert, wenn es zu stark betont wird, an Glaubwürdigkeit. Die starken Prägungen, die starken Impulse, die starken Signale kommen aus der Stille.» Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass gerade auch die fragliche Friedhofszene nicht ohne grotesken Humor ist, lässt sich Meier zu einer wunderbaren Apologie des Humors verleiten: «Humor ist für mich eine lebenswichtige Angelegenheit. Hitler hatte keinen Humor, Stalin hatte keinen Humor. Lebewesen ohne Humor sind, extrem ausgedrückt, Monster. Wobei ich Humor nicht mit Witzelei verwechseln möchte. Humor ist etwas Menschliches, etwas Warmes, etwas Lebensfreundliches, etwas ungeheuer Humanes. Humor bedeutet Anstand, und Humor hat vielleicht auch mit Intelligenz zu tun.»
Bei der Wanderung durch die Text-Collage kommen wir zu einer Passage, in welcher sich der Passagier der Lokalbahn Solothurn-Langenthal unversehens in die Transsibirische Eisenbahn versetzt fühlt. «Unser Denken hält sich ja nie an diese platte Realität, an die wir alle zu glauben scheinen», erörtert Meier. «Wir denken in grossen Räumen, in verschiedenen Zeiten, wir denken, wie wir träumen, es denkt einfach in uns. Ich kann mich sehr leicht verlieren, und damit hängt es wohl auch zusammen, dass wahrscheinlich alle meine Leser meine Texte besser kennen als ich. Ich muss manchmal sogar nachschauen, wie die Figuren heissen, und viele Zusammenhänge in meinen Texten sind mir erst mit der Zeit, vielfach dank den Rezensionen, aufgegangen.» Ob man ihn denn als einen naiven Schriftsteller bezeichnen könne ? «Wahrscheinlich schon, aber ich habe mich ein Leben lang um eine Balance zwischen Gefühl und Verstand, Instinkt und Intellekt bemüht, und diese Balance bringt man ja nicht selber hin, aber manchmal glückt sie einem doch. Es passiert gerade in der Kunst vieles vegetativ, und ich bin auch ein Christ, und ich sage: Es fällt uns einiges zu, quasi als Gnade. Das Wesentliche an unserer Arbeit ist Gnade, obwohl uns die Knochenarbeit natürlich nicht erspart bleibt.»
Ich bin ein Indianer
Im Zusammenhang mit dem 7.Bild, «Landstörzer», kommt Meier auf die Indianer zu sprechen, die in seinem Werk eine wichtige Rolle spielen. «Ich bin vom Wesen her ein voller Indianer. Ich teile mit ihnen diese Vertrautheit, diese Nähe zur Schöpfung. Auch für mich ist die Materie beseelt. Und mein eigentliches Anliegen ist es vielleicht, etwas von der Schöpfung hereinzubekommen ins Gedicht und in die Prosa. Die Indianer haben mich aber auch durch die Sprachzeugnisse, durch die Reden der Häuptlinge bei der Übergabe des Landes, ungeheuer bewegt. Diese Sprache hat mich schon immer an die Bibel erinnert, wie Luther sie übersetzt hat.»
Erneut auf das Thema Sprache bingt uns Bild 9, «Spaziergang III», wo einen der Satz «Das Gerede ist wieder ins Kraut geschossen» unweigerliche auf Meiers sprachliche Kargheit, auf seinen Lakonismus, bringt. «Das hat weiss Gott mit meiner Vita zu tun», erklärt er das Phänomen. «Wenn man wirklich in den sozialen Niederungen gelebt hat, dann wird man etwas spröde und dem Hochtrabenden und Pathetischen und Pausbäckigen abhold. Man wird, wie die Leute Hände bekommen mit der Zeit: schwielige, rissige, breite, trockene Hände.» Da aber das Karge, Lakonische bei Meier in einem Punkt auch reich ist, nämlich in Sachen Bilder, kommen wir nochmals auf Luther zu reden. «Ich habe in der Lutherbibel meine schönsten und grössten Texte gelesen», gesteht Meier. «Die erste Rede des Predigers Salomon, ,alles ist eitel’, und dann die Schöpfungsgeschichte, über die sich die Menschen lustig machen, weil sie eins zu eins genommen wird. Sie wissen nicht mehr, dass es nicht nur gemalte Bilder gibt, sondern auch Sprachbilder und Tonbilder, und dass wir in Bildern leben müssen, weil es Sachen gibt, die wir nur über das Bild begreifen können.»
Leseerlebnisse, nicht Vorbilder
Bei Bild 11, «Venedig», wo von den Proust lesenden Venezianerinnen die Rede ist, kommen wir auf mögliche literarische Vorbilder zu sprechen. Aber Meier winkt ab: «Ich habe ein hysterisches Bedürfnis nach Freiheit, und da kann ich mich nicht an irgendjemanden anlehnen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass ich nie Autoren gelesen habe, um etwas bei ihnen zu lernen. Aber es gibt eine ganze Reihe von Autoren, denen ich grandiose Leseerlebnisse verdanke: Cooper, Tolstoj, Keller, Walser, Virginia Woolf, Claude Simon, den ich für den grössten lebenden Autor halte. Dürrenmatt kenn’ ich nicht, ich konnte ihn nie lesen. Auch Frisch konnte ich nicht lesen. Dürrenmatt ist ein Schlachtschiff, ich hab’s eher mit den Seglern…»
In Bild 15, «Ferdinand II» , steht zu lesen: «Vermutlich ist unser ganzes Leben, unser Denken, ein stetes Abweichen.» Was die Frage nach Meiers assoziativem Stil hervorruft, jener Stil, mit dem er sich vielleicht am deutlichsten von der noch immer vorherrschenden linearen Erzählmode abhebt. «Das Lineare gibt es gar nicht», erklärt Meier mit Nachdruck. «Das ist eine Idiotie, das ist ein Irrtum, dem wir immer wieder aufsitzen. Aber so läuft es nicht. Es ist ein Chaos mit einer geheimen Ordnung dahinter.» Und dann erinnert sich Meier weit zurück, in jene Zeit, als er als Kind in der Kirche eine langweilige Predigt anhören musste und merkte, dass das Gehirn von selber abschweifte und etwas ganz anderes machte. «Damals dachte ich mir, es müsste wunderbar sein, diesen Gedankenstrom anzuzapfen, weil uns das ja weitgehend bestimmt in unserem Leben, und vielleicht ist meine Schreibe nun heute ein Bild dafür, wie’s in uns drin zugehen kann.» Ob er denn die geheime Ordnung kenne, die hinter dem Chaotischen stecke? «Als Christ ja, als Schriftsteller nein. Da sind mir die Zusammenhänge verborgen.» Und dann fasst Meier seine Auffassung von Kunst in die folgende kleine Parabel: «Gott hat im Paradies den Menschen gesagt: Du darfst nicht werden wie Gott. Aber dann ist er sich reuig geworden und hat gedacht: «Das ist zu hart. Ich gebe ihnen das Lied, den Text und das Bild, dann können sie wenigstens hinten herum an das Göttliche herankommen.’ So sehe ich das. Kunst ist für mich nicht einfach ein Unterhaltungsmittel, Kunst hat mit Schöpfungsnähe zu tun, mit der Nähe zu Gott, aber nicht im erbaulichen, sondern im eigentlichen Sinn.»
Liebe und Intimität
Bild 18, «Linda», bringt uns auf das Thema Liebe, steht da doch zu lesen, unerfüllte Liebe sei die wirklich grosse Liebe. Was Meier sofort auf die Literatur eingeschränkt wissen will, heute, an seinem 62.Verlobungstag, den er des Interviews wegen schon gestern begangen hat: auf der Schanze in Solothurn, wo er mit Dorli damals die Ringe getauscht hat. In der Literatur sei immer noch die Jugendgeliebte Linda die Favoritin, «aber vermutlich verliert sie jetzt ihren Platz.» Dann kommen wir auf das Thema «Wahrung der Intimität» zu sprechen, und Meier distanziert sich klar von der heutigen Tendenz zum Tabubruch. «Je mehr Tabus sie brechen, diese Leute, desto friedloser werden sie. Es gibt Bereiche, die man nur mit ausgezogenen Schuhen und mit gewaschenen Händen betreten darf…»
In den Wind schreiben
Bild 19, «Walser», bringt uns auf Meiers Verhältnis zu Robert Walser, dem er sich ohne Anbiederung innerlich verwandt fühlt. Darum schreibt er auch ihm jenes «Schreiben in den Wind» zu, das er selbst seit vielen Jahren pflegt: «Das hab’ ich häufig gemacht auf meinen Stadtgängen nach Bern und Solothurn. Da, auf meinen Flaniergängen, habe ich wahrscheinlich meine besten Texte einfach so in den Wind geschrieben. Und der ist ja bekanntlich haltbarer als Zellulose…»
Birken zählen
Schliesslich kommen wir auf das 26. Bild zu sprechen, das der Collage den Titel gegeben hat. «Am liebsten wäre man Birken zählen gegangen», ein Satz, den Bindschädler am Grabe Baurs spricht, mit dem zusammen er in Gedanken häufig in Russland weilte. Der Satz meint, so Meier, «dass man sich selber entflieht und in Russland ankommt, dass man etwas Unnötiges, etwas Irrwitziges tut, etwas, was jenseits aller Vernunft und Nützlichkeit liegt. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag, als ich auf dem Friedhof diesen Einfall hatte. Es war ein Herbsttag von einer aussergewöhnlichen Schönheit, und die Birken hatten noch so ein paar letzte Blättchen obendran.»
Als wir nach unserem Gespräch zum Bahnhof gehen, wölbt sich ein wolkenloser winterlicher Sternenhimmel über uns. Und als er einen Moment stehen bleibt und bekennt, dass er all das, was er geworden sei, nicht geworden wäre ohne die Geborgenheit in diesem Dorf, da wird mir unwillkürlich klar, dass dieser Dichter in seiner Attitüde tatsächlich vollkommen arglos ist und dass das Dunkle, Zerrissene, Unerbittliche, das einem nebst all dem andern aus einen Büchern entgegentritt, tatsächlich ein Teil jenes chaotischen Bewusstseinsstroms sein muss, den er nicht als ein Macher beherrscht, sondern nur als Medium – auf einzigartige Weise – vermittelt.
(Der Artikel erschien vor der Neumarkt-Premiere von «Am liebsten wäre man Birken zählen gegangen» im «Bund»)