Kurt Marti
»Ich sagte schon immer, da stimmt was nicht, da stimmt doch bestimmt was nicht, mal arbeitet er, ein andermal wieder nicht ...« - Es ist eine alte Frau, die so zu erzählen beginnt, harmlos, plauderselig, naiv. Sie berichtet von einem »Schelm«, mit dem ihre Tochter ein Verhältnis hat: ein arbeitsloser Gelegenheitsarbeiter, der auch schon mal »sass« und der für das ältliche Mädchen Frieda in der Enge des Dorfes dennoch der letzte und einzige in Frage kommende Partner ist. Sie sagt dies nicht wörtlich, die alte Frau, aber all dies wird aus ihrem Monolog heraus fühlbar. Vier Buchseiten lang erzählt sie in ungebrochener Rollenprosa, dann kennt der Leser zwei, nein drei Schicksale so gut, als hätte er einen dicken Roman gelesen. Dieses meisterhafte Stück Kurzprosa leitet einen dünnen Band mit 22 weiteren, ebenso knappen und eindringlichen Geschichten ein: Texte, die enthüllen, ohne zu verletzen, Texte, die Liebloses liebevoll darstellen, Texte, die einen ganz neuen, sachlich-unpathetischen Ton in die vielfältig belastete Gattung der schweizerischen Dorfgeschichte einbringen oder vielmehr einbrachten. Denn das Bändchen erschien bereits zu Beginn der sechziger Jahre im Verlag Sigbert Mohn, Gütersloh, und nannte sich schlicht Dorfgeschichten 1960. Vier Jahre vor Bichsels Milchmanngeschichten hätte das Buch eigentlich der Schweizer Kurzprosa im deutschen Sprachgebiet zu neuem Rang und Ansehen verhelfen müssen. Aber damals, 1960, war für einen dritten grossen Schweizer Namen neben Frisch und Dürrenmatt in Deutschland wohl gerade noch kein Platz frei - oder dann kamen diese Dorfgeschichten eben doch zu unscheinbar, zu unspektakulär daher, als dass sie Staub hätten aufwirbeln können.
Mit den Dorfgeschichten 1960 ist der damals neununddreissigjährige Pfarrer und Lyriker Kurt Marti erstmals als Erzähler aufgetreten. Er hat damit der Schweizer Prosa kurz mal eine neue Richtung gewiesen, dann überliess er es den anderen, den Weg zum Erfolg weiter auszutreten. Er selbst wandte sich der Erprobung weiterer neuer Möglichkeiten zu. So löste er mit Rosa Loui 1967 eine neue Welle von Dialektdichtung aus, so machte er mit seinen Leichenreden 1969 die Predigt und mit Abratzky oder Die kleine Blockhütte 1971 das Lexikon zu literarisch tragfähigen Formen, so gab er dem politischen Tagebuch mit Zum Beispiel Bern 1972 oder Ruhe und Ordnung (1984) neue starke Impulse, so wird er wohl auch in Zukunft jeweils genau mit der literarischen Form operieren, die er für die angemessenste hält. Und es würde nicht verwundern, wenn die gewählte Form sich auch in weiteren Fällen als so gültig und beständig erwiese wie jene der Dorfgeschichten 1960, die nun bald drei Jahrzehnte unverstaubt überdauert hat.
Die Dorfgeschichten sind als Luchterhand-Taschenbuch 487 greifbar. (Literaturszene Schweiz)