«Menschen sind wie Briefmarken»: Ossip Mandelstam (15. Januar 1891 - 27. Dezember 1938)

«Irgendwann wird man dich hinauswerfen, Parnok, nach einem fürchterlichen Skandal schmählich hinauswerfen», heisst es vom Helden der Erzählung «Die ägyptische Briefmarke», der nach dem Willen Ossip Mandelstams selbst diese Briefmarke ist: klein, gefährdet, bald einmal nutzlos. Im St.Petersburg zwischen Februar- und Oktoberrevolution 1917 lässt er die Geschichte spielen. Parnok ist auf der Suche nach seinem (unbezahlten) Sonntagskleid, das ihm der Schneider Merwis wieder abgenommen hat. Doch er bekommt weder den Anzug zurück, noch kann er den Lynchmord der Kanaille an einem Schuldlosen verhindern. «Ein schrecklicher Gedanke, dass unser Leben eine Erzählung ohne Fabel und ohne Held ist, aus Leere und Glas gemacht, aus dem heissen Gestammel der Abschweifungen, aus dem Petersburger Influenzadelirium.» Bals 120 Jahre ist er alt, dieser Text, und noch immer hat er nichts von seiner elementaren Drastik und Kraft verloren, spricht sich da doch der Lyriker Mandelstam mitten in einer Lebenskrise, in der er fünf Jahre keine Gedichte mehr schrieb, in Prosa aus: chiffriert, hermetisch und so, als müsse er die Verzweiflung hinter schrillen Bildern verstecken: «Die Angst nimmt mich bei der Hand und führt mich. Ein weisser zwirnener Handschuh. Ein Handschuh ohne Finger. Ich liebe, ich verehre die Angst. Beinah hätte ich gesagt: Wenn sie bei mir ist, habe ich keine Angst.» «Die ägyptische Briefmarke» von 1928 gehört zu Mandelstams letzten Büchern. 1933 konnte er noch die lyrischen Früchte einer Armenienreise publizieren, dann verstummte er. Wegen eines Epigramms auf Stalin kam er drei Jahre nach Sibirien, um danach nochmals zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt zu werden. Am 27.12.1938 starb er 47jährig in einem Lager bei Wladiwostok. Vollständig publiziert und gelesen wurde er erst lange nach seinem Tod: ab 1955 in den USA, dank Ralph Dutli seit 1985 im deutschen Sprachraum, seit 1990 endlich auch wieder in Russland. (Das Bild machte der NKDW 1938 vom verhafteten Dichter)