«Le Petit Ami»: Paul Léautaud (1872-1956)

«Der Titel schmerzt mich masslos», schrieb Paul Léautaud dem Freund Paul Valéry, als Alfred Valette vom «Mercure de France» 1903 seinen Erstling unter der Überschrift «Le Petit Ami» in den Handel brachte. Er hätte ihn lieber «Le Petit Livre des Prostituées» genannt, spielt er doch auf eine ganz unprätentiöse, fast kindliche Weise im Milieu junger Pariser Kokotten, die den kleinen Literaten, der vorgibt, über sie ein Buch zu schreiben, in ihr Herz geschlossen haben und wie eine Art Ersatzkind hätscheln und verwöhnen, «Der kleine Freund» bringt aber noch eine weitere Dimension des Buchs ins Spiel, die wichtiger als die erste ist und die Léautaud ganz offenbar diskret behandelt wissen wollte: die Beziehung des Erzählers zu seiner Mutter, die er nach den zwanzig Jahren einer Pariser Milieu-Kindheit wie ein Wesen aus einer anderen Welt wiedersieht und deren «petit ami» er ein paar zärtliche, leidenschaftliche Wochen lang wird. «Le Petit Ami» ist das intimste, persönlichste Buch von Paul Léautaud, und das will etwas heissen bei einem Autor, der vor allem mit den 19 Bänden seines von 1893 bis 1956 geführten «Journal littéraire» in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Mit einem Werk, das aus eigenwillig-einseitiger Optik ein ganzes Jahrhundert, vor allem aber die seelische und intellektuelle Entwicklung eines ungewöhnlich sensiblen, einsamen Menschen zum nüchtern protokollierenden monumentalen Sprachkunstwerk macht. «Le Petit Ami» aber hebt sich aus all den Tausenden von Seiten ab, weil darin jenes echte Liebes- oder Glückserlebnis beschrieben ist, das der Schwerenöter lebenslang mit eiserner Disziplin aus dem Tagebuch ausgespart hat. «Ich war glücklich, oder ich hatte wenigstens die Illusion eines gewissen Glückes», heisst es im «Journal» über die Zeit des «Petit Ami». «Das war ein einzigartiger Augenblick in meinem Leben, und noch die Erinnerung daran - keine meiner anderen Empfindungen, in der Liebe oder über literarische Erfolge, kommt ihr gleich.»