Macht die Augen auf und träumt! Ernst Kreuder (29. August 1903 - 24. Dezemer 1972)

«Es muss jeder sein eigener Phantast werden! Statt Romane zu lesen oder ins Kino zu gehen, um danach nur um so unzufriedener in den Alltag zu taumeln, müssen wir die Leute zwingen, selbst Romane zu leben und den Alltag in Abenteuer zu verwandeln. Wacht auf! Reisst die Brandmauern eurer Gewohnheiten nieder! Macht die Augen auf und träumt! Das Wunderbare will durch euch geschehen!» Radikaler, romantischer als der am 29.August 1903 in Zeitz geborene Ernst Kreuder hat sich noch kaum ein Autor der Seelenlosigkeit des technischen Zeitalters entgegengestellt. Das Zitat entstammt der 1946 in Hamburg erschienenen Erzählung «Die Gesellschaft vom Dachboden»: Sechs Jugendliche gründen auf einem Dachboden in Erwartung eines siebenten den «Bund der sieben», der eine auf Phantasie statt auf Geld, Technik und Macht basierende Welt begründen will und sich «Aufrichtigkeit, Anhänglichkeit, Barmherzigkeit, Überschwenglichkeit, Beharrlichkeit, Friedfertigkeit und Unüberwindlichkeit» zur Pflicht macht, durch allerlei Erfahrungen aber dazu kommt, «Unüberwindlichkeit» durch «Wandelbarkeit» zu ersetzen. Nach einem Bund romantischer Träumer sucht auch Orlins in Kreuders zweitem Roman, «Die Unauffindbaren» von 1948, und auch «Herein ohne Anzuklopfen» von 1954 ist letztlich ein literarischer Protest gegen Fortschrittsglauben, Naturzerstörung und Militarismus und behauptet noch einmal mit Verve, was Kreuder stets von neuem wiederholt hat: dass eine wahrhaft humane Existenz nicht dem Macher und Opportunisten, sondern nur dem Träumer möglich sei. 1946, als die Welt in Trümmern lag und das Lesepublikum noch wusste, wie all das gekommen war, fand das romantische Protestbuch «Die Gesellschaft vom Dachboden» reissenden Absatz. Und doch war Ernst Kreuder, als er 1972 starb, vollkommen vergessen, hatte der neue Wohlstand die Phantasie doch längst wieder ins Kino und in die Welt der Technik abgedrängt.