«Geh ein Wort über dich hinaus»: Marie Luise Kaschnitz (31. Januar 1901 - 10. Oktober 1974)

«Wer allein ist, wird unruhiger, wacher, aufmerksamer, von jeder Unruhe mitgerissen, wie ein Weidenzweig, den das strömende Wasser eines Baches mitreisst, wieder freigibt, wieder mitreisst, es ist da kein Ende abzusehen.» 1958, nach dem Tod ihres Mannes, des Gelehrten Guido von Kaschnitz-Weinberg, begann für Marie Luise Kaschnitz, geboren 1901 als Luise von Holzing-Berstett, eine ganz neue literarische Existenz. Ein radikaler Neubeginn, der sie im Zeichen der Trauer und des Todes aus der Konventionalität der antikisierenden, der Daseinsfreude verpflichteten früheren Lyrik zur metrisch freien Form und zu Aussagen führte wie «Halte nicht ein bei der Schmerzgrenze / Halte nicht ein / Geh ein Wort weiter / einen Atemzug / Noch über dich hinaus», «Warum ist seit Auschwitz nichts wesentlich besser / Geworden?» oder, Handkes Publikumsbeschimpfung evozierend, «Friss, Vogel, oder lass es bleiben, werde satt, Leser, oder bleibe hungrig, ergänze, was nicht dasteht, aus eigenem Vermögen.» Am bewegendsten aber zeigt sich der Bruch in den vier Bänden autobiographische Prosa, von denen der erste 1963 und der letzte 1973, ein Jahr vor ihrem Tod am 10.Oktober 1974, erschien. «Wohin denn ich», woraus das oben Zitierte stammt, ist die imaginäre Reise einer Witwe zwischen Todesverlangen und Neuanfang: «Fort, fort, fort, nicht ankommen müssen, nicht mehr lernen müssen, was man doch nicht versteht.» «Tage, Tage, Jahre» (1968) vermittelt zwei Jahre Tagebuch in der Vergegenwärtigung von «Innen und Aussen», «Steht noch dahin» von 1970 zerfällt schroff in Gedankensplitter und Aperçus, die in dichtungsferner Zeit nicht mehr sein wollen als «ein paar fadendünne Wörter auf leerem Papier», während der Abschlussband «Orte» fast wieder episch erzählend wird und anhand von Lebensstationen wie Potsdam, München, Rom oder London schwermütig-melancholisch Spuren gelebten Lebens fassbar macht. Anklagend, ruhelos und getrieben vom drängenden, nie zu beschwichtigenden Gefühl, «unerlöst zu sein».