Philippe Jaccottet *1925

Als dem Lyriker Gustave Roud am 27. Juni 1941 der Prix Rambert überreicht wurde, sass zuhinterst im Saal der sechzehnjährige Lausanner Gymnasiast Philippe Jaccottet, der seit ein paar Jahren auch selbst Gedichte schrieb. Roud sprach in seiner Dankesrede vom Gesang eines unsichtbaren Vogels, den er in der Morgendämmerung gehört habe, und die Erkenntnis, dass Dichtung auf derart einfache Weise das Licht des Tages in sich tragen könne, beeindruckte Jaccottet so sehr, dass er lebenslang davon zehrte. Was er dichtete, war zunächst noch epigonal, aber im Umgang mit Grösserem kam er auf das, was er nach einem Wort Rilkes werden wollte: «ein zum Rühmen Bestellter». Jaccottet rühmte die Dichter, indem er sie übersetzte, und dank seinen Übertragungen erhielt die französischsprachige Welt authentischen Zugang zu Robert Musil, Thomas Mann, Rilke, Hölderlin, Ingeborg Bachmann und Giuseppe Ungaretti – wobei letzterer überzeugt war, dass seine Gedichte in Jaccottets Französisch besser klängen als im italienischen Original. «Es war dieser Ton, den ich übertragen wollte, der ganz bestimmte Ton einer Stimme, in dem ein lyrisches Werk zu mir sprach.» Was Jaccottet als Übersetzer zum Klingen brachte, zeichnet auch die eigenen Gedichte und Texte aus, zu deren Veröffentlichung er sich erst nach reifer Überlegung bereitfand: der unverwechselbare Klang, die eigene Tonlage und die absolute Stimmigkeit der Diktion. Das lässt sich in so unterschiedlichen Werken ablesen wie dem 1947 publizierten «Requiem» auf die Opfer des Welt kriegs, den Haikus des Bands «Airs» (1967), den todestrunkenen «Leçons» (1969), den federleichten «Pensées sous les nuages» («Gedanken unter den Wolken») von 1983, den asketischen Prosagedichten «Après beaucoup d’années» («Nach so vielen Jahren») von 1994 oder dem bewegenden Prosa-Epitav «Truinas» auf den Freund André du Bouchet von 2004. Immer aber findet sich da bei aller Brillanz dieses Zögern, diese Zurückhaltung, diese Leichtigkeit, die er 1967, im Band «On voit» («Man sieht» ), so umschrieb: «Sieh meinen Vorrat: Gras und rasches Wasser, / ich habe mich leicht erhalten, / auf dass der Nachen weniger einsinkt.» Nicht nur von der ästhetischen Meisterschaft, auch von der Aussage her steht deram 30.Juni 1925 in Moudon geborene Übersetzer und Dichter, der seit 1953 mit der Malerin Anne-Marie Haesler in Grignan am Fusse des Mont Ventoux lebt, in einer grossen Tradition. Indem er nämlich, diskret und kaum erkennbar, den schon von Musil ersehnten «anderen Zustand», den Traum vom wahren Leben, aus der ihn umgebenden Landschaft herausliest und in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt. Jenes «andere», das, wie er 1994 formulierte, «dem Gewicht des Unglücks entgegensteht und das jeder in sich nährt, der noch immer etwas schreibt oder liest, was man Poesie nennt. [...] Ahnungen, so unpassende, dass man sich selbst zuweilen für einen lächerlichen Überlebenden hält.» So resigniert das anmuten mag: Die leisen Botschaften Philippe Jaccottets erreichen ihre Leserschaft auch durch den Lärm des 21. Jahrhunderts hindurch. 2001 jedenfalls prangten Gedichte von ihm in jeder Pariser Metro-Station, und im Jahr zuvor, als sich der 75-Jährige erstmals zu einer Lesung hatte überreden lassen, war das Centre Culturel Suisse aus allen Nähten geplatzt. Am 13. Mai 2010 aber, als er im Stadttheater Solothurn den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung entgegennahm, erlebten auch hierzulande Hunderte, dass Jaccottet seinem Vorbild Gustave Roud inzwischen auf eine eindrückliche Weise mehr als ebenbürtig geworden ist.

Aargauer Zeitung vom 18.04.2020