Christian Haller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Krisen- und Übergangszeiten haben immer wieder Literatur hervorgebracht, die der (als unerträglich empfundenen) Gegenwart eine Vergangenheit entgegenstellt, die sie mit dichterischen Mitteln verklärt oder auf dunkle Weise zum Leuchten bringt. Musil, Hoffmannsthal und Joseph Roth haben so die untergegangene Habsburgermonarchie literarisch wiederauferstehen lassen, Proust machte sich nach dem Ersten Weltkrieg auf die Suche nach der verlorenen Zeit des französischen Grossbürgertums. Und nicht viel anders funktioniert auch der Roman «Die verschluckte Musik», den der aus Brugg AG gebürtige Schriftsteller Christian Haller dem Lesepublikum als sein bisher gelungenstes Buch vorlegt.
«Der rückwärtsgewandte Blick, diese Sehnsucht nach Vergangenem» ist die – wörtlich eingestandene – Schreibmotivation des in Ich-Form berichtenden Erzählers, und ihren ganz besonderen Charme erhält diese rückwärtsgewandte Attitüde dadurch, dass da nicht einfach eine schweizerische Familiengeschichte eines Schweizer Autors rekonstruiert wird, sondern auf sinnlich intensive, bildkräftige Weise ein fernes Land erzählerisch herangeholt wird, in dem Hallers Mutter, eine geborene Schmits, was im Buch mit «S» abgekürzt wird, ihre Kindheit verbrachte und das dem Sohn zunächst nur aus Bildern, Andeutungen und unverständlichen Sprachfetzen wie «Ceai cu rom» (für Tee mit Rum) bekannt war.
Wohl um in der nüchternen neuen Heimat lebenstüchtig genug zu sein, hat die Mutter Rumänien, das Land ihrer Kindheit, lebenslang tabuisiert und die Erinnerungsmusik daran gleichsam «verschluckt». Alt und krank geworden, will sie sich dem Kindheitsland wieder zuwenden, vermag die ihr verbliebenen Erinnerungsfetzen aber nicht mehr zum Ganzen eines abgerundeten Bildes zusammenzufügen. Da bietet, auch von eigener Neugierde getrieben, ihr Sohn sich an, ins Land ihrer Kindheit zu reisen und ihr die Erinnerung erzählend und berichtend zurückzugeben. Er ist Paläontonloge von Beruf, also damit «vertraut, ausgehend von fossilierten Resten … das gesamte Skelett und damit die Gestalt zu rekonstruieren», und so gelingt es ihm, obwohl er 1997 nur noch wenige Spuren von jenem Rumänien wiederfindet, das die Mutter 1912 als kleines Mädchen angetroffen hatte, die Gestalt und die Umrisse eines Landes wiederherzustellen, das so nur noch in der Erinnerung der wenigen Überlebenden existiert. «Und ich spürte ihre Erschütternung», heisst es, als der Sohn der Mutter aus Bukarest telefoniert. «Sie lag im Spital, in einem dieser Vierbettzimmer, abgetrennt vom Alltag, und ihr Sohn meldet sich aus der Vergangenheit, vom Ort ihrer Kindheit, wo sie die beste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Ich begriff, dass ich in dem Moment durch meine Reise zu einer Figur ihrer Seele geworden war, zu einem Boten, der ihr Nachricht aus den eigenen inneren Räumen bringen würde … Sie war erlöst, sie hatte sich nicht getäuscht, es gab Bukarest, es gab die Calea Victoriei noch …»
Wie die Rumänienreise des Sohnes zustandekommt und was sie bezweckt, erfährt man in dieser Deutlichkeit allerdings erst im letzten Drittel des Buches. Die erinnerte Vergangenheit tritt einem, nicht anders als bei Proust, zunächst scheinbar ungeordnet entgegen, und erst allmählich ist man in der Lage, die einzelnen Ebenen und Stränge einwandfrei zu identifizieren: die Ankunft des Grossvaters 1912 in Bukarest und die ersten Jahre einer grossbürgerlichern Direktorenfamilie, die Abreise 1917 in die Schweiz, als Krieg und Unruhen ein Dableiben verunmöglichen, die Rückkehr nach Rumänien, die kurze Scheinblüte nach dem Ersten Weltkrieg , die endgültige Rückkehr in die Schweiz im Jahre 1926 und schliesslich, viele Jahre später, 1997, die Reise des Enkels und Sohnes in das ihm nur von den Erzählungen der Verwandten her bekannte Land.
Stilistische Brillanz
Die Erinnerung entzündet sich immer wieder neu an Funden und Dokumenten wie Fotografien, Daguerrotypien oder Briefen, das Erzählen wird verdichtet und strukturiert durch Elemente aus der Paläontologie, aus der zoologischen Lehre von den Vogelfedern und aus der Farbenkunde, der das Rumänien der nostalgischen Erinnerung mit einem erdhaften Gelb und Spuren von Blau zugeordnet ist. Stilistisch-kompositorisch behält die Erzählung bei all dem ihre Frische und Unbelastetheit, weil der Vorgang des Beschreibens, sich Erinnerns und Imaginierend ständig mitbedacht ist und sich der Autor nur an seltenen Höhepunkten und unter vorheriger oder nachheriger Bekanntgabe des überlieferten Kerns gestattet, seiner Phantsie und Erzähfreude freien Lauf zu lassen und die Figuren eins zu eins auftreten und berichten zu lassen. So steigert sich z.B. die Bemerkung der Mutter, sie seien jeweils im Winter im Schlitten in Pelzdecken gehüllt ausgefahren, in der Erzählung des Sohnes «ins Fürstliche» und entsteht daraus die anschauliche Schilderung einer Kutschenfahrt durch das verschneite Budapest mit Türken und Tanzbären und bärtigen Männer in jüdischen Kaftanen.
Phantasie und Realität
Tatsächlich ist es schliesslich der Sohn, gewappnet mit Phantasie und aktueller Anschauung vor Ort, der der Mutter erzählt, was sie vor Jahrzehnten erlebt haben könnte, und der Einzug in jenes durch Zufall noch stehengebliebene Haus an der Budapester Strada Morilor, wo sie die Kindheit verbracht hat, gleicht fast schon einem Triumph und bringt auf überraschende Weise Erfindung und Realität zur Deckung: «Und ich stand da und hatte eine Antwort, allerdings eine nur für mich, die ein schönes Glücksgefühl nach sich zog. Ich hatte da, im Innern des Hauses, meine Mutter gefunden, endlich sah ich sie, ja mehr als das: Ich hatte die Empfindung, in ihre innerste Welt getreten zu sein… Und ich stand nur einfach da, in dieser verfallenden Welt, sah und hatte gefunden und war selbst wie erlöst.»
Dieses ferne Budapest in seinen verschiedenen historischen Phasen einmal als nostalgisch verklärte altertümliche Weltstadt und dann wieder unbeschönigt als Trümmerlandschaft und nicht zuletzt auch als einen Ort von Terror und Verbrechen kennzeichnend und entlarvend, leistet Christian Haller in seinem Buch natürlich mehr als nur Erinnerungsarbeit im Dienste einer gedächtnisschwachen alten Frau. Dadurch, dass er das, was unwiederbringlich verloren ist, schreibend festhält, beweist er die Kraft der Sprache als Ort der Erinnerung, und seine Reise nach Budapest dient letztlich nur dazu, um sich dessen endgültig bewusst zu werden. «Es schwankt» lautet der erste und der letzte Satz des Romans, und während das «Paris des Ostens » zuerst von den Faschisten und später von Ceaucescu und Konsorten in eine trostlose, bereits wieder zerfallende Diktatorenmetropole umgewandelt worden ist, bleibt die Erinnerung daran einzig in Büchern und literarischen Rekonstruktionen wie der vorliegenden für die Nachwelt erhalten.
Eine Erkenntnis, die, ob bewusst oder unbewusst, an ein anderes grosses Erinnerungsbuch der Schweizer Literatur, an Kurt Guggenheims Roman «Salz des Meeres, Salz der Tränen» von 1964, anknüpft, wo der von Christian Haller für das Bukarest der Jahre 1912 bis 1997 exemplifizierte Vorgang für die Stadt Le Havre zwischen 1919 und 1964 dingfest gemacht ist. Und was Christian Haller im Budapest des Jahres 1997 feststellt, hat Kurt Guggenheim im zerstörten und ander wiederaufgebauten Le Havre von 1964 mit nicht weniger Erschütterung konstatiert: dass nämlich «diese absurde Reise» einzig und allein den Sinn gehabt habe, «alle körperliche Substanz auszumerzen, damit nichts mehr übrigblieb als die Vision» und dass «diese Reise nichts anderes als ein Augenschein» war, «der mich vom ,Nevermore’, vom ,Niemals mehr’ überzeugen sollte. Denn der Zerstörung all dessen, was zerstörbar ist, haben wir allein jene stofflose und unzerstörbare Wirklichkeit entgegenzustellen, die währt, solange unser Herz schlägt.»
Hallers Roman, der auf feinsinnig-poetische Weise das Bukarest der ersten Vorkriegsjahre und dasjenige der frühen Zwanzigerjahre in unser Blickfeld rückt und die längst untergegangene Welt mit einem Augenschein des Jahres 1997 kontrastiert, ruft in erster Linie aber nicht Kurt Guggenheim, sondern zwei andere Schweizer Autoren in Erinnerung, denen Rumänien zum Thema geworden ist. So hat der ehemalige «Bund»-Literaturredaktor Hugo Marti (1893-1937) in den drei Erzählungen «Rumänisches Intermezzo», «Sonja» und «Jelena» auf hinreissende Weise das Rumänien der Jahre 1915 bis 1917 Gestalt werden lassen, das er als Hauslehrer einer Fürstenfamilie kennengelernt hatte. Das Rumänien der Jahre 1967 bis 1982 aber lernen wir mit Rückblenden in die zweite Kriegs- und Vorkriegszeit in dem Buch «Wunderzeit» des 1967 in Temesvar geborenen und heute in Zürich lebenden Catalin Dorian Florescu kennen. Ein Autor, der, anders als Marti und Haller, dem Historischen mit Humor und Satire beizukommen sucht und der, statt nostalgisch in der Erinnerung zu schwelgen und das Unwiederbringliche zu betrauern, frech und witzig und frivol mit dem Vergangenen abrechnet.
Haller, Marti, Florescu: Wollte jemand neuere rumänische Geschichte zum Schulfach machen, so ständen dafür drei Autoren zur Verfügung, die das auf je unterschiedliche, aber auf künstlerisch durchwegs überzeugende und spannende Weise literarisch vorweggenommen haben.
(Christian Haller: «Die verschluckte Musik». Roman, Luchterhand-Verlag, 2001. Der Artikel erschien erstmals im «Bund»)

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 16.09.2020