Rudolf Jakob Humm

Häuser mit Arkaden und verwunschenen Innenhöfen, enge Gassen voller Droschken und Fuhrwerke, Offiziere in längst vergessenen Uniformen, Frauen in wallenden Gewändern, Kinder in Matrosenkleidchen, flimmerndes Licht und südliche Wärrne-, dazu all die wunderlichen Gerüche, Farben, Klänge, Worte; das Französisch der Gouvernante, das Italienisch der Mägde - Modena, Italien, 1900: die Idylle einer Auslandschweizer-Kindheit, festgehalten auf winzigen Erinnerungs-Inseln, die der Vierzigjährige dann spielerisch zu einem Mosaik zusammenfügt. Wen kümmert's, dass der Erzähler damit den sozialistischen Freunden zerknirscht seine kapitalistische Kindheit beichten, dass er dem überaus geschäftstüchtigen Vater seine federleichte Poesie als Provokation und Vorwurf entgegenhalten will? Der Zauber seiner Kindheits-Inseln spricht für sich selbst und macht alle Erklärungen überflüssig.
Nach dem pfiffigen und vieldiskutierten Linsengericht von 1928 waren Die Inseln der zweite Roman von Rudolf Jakob Humm. Als er 1936 erschien, schrieb Hermann Hesse: »Dieser spröde Autor gehört, wie ich glaube, zu den besten Prosaisten deutscher Sprache.« Und Friedrich Glauser bekannte resigniert: »So etwas werd' ich nie schreiben können. Dazu langt es nicht.« Der einflussreiche Literaturprofessor Emil Ermatinger aber entschied für sich und seine Jünger: »Solche Bücher wollen wir nicht haben!« Was offenbar nicht ohne Folgen blieb, verkaufte der Verlag doch in elf Jahren ganze 65o Exemplare davon. Humm selbst aber hielt Die Inseln zeitlebens für sein gelungenstes Werk. Sogar dem Carolin von 1944 zog er das Leichtgewicht vor, obwohl er dort ebenfalls ein Stück bedeutsam Selbstbiographie eingearbeitet hatte: die Zeit, als er in Zürich zu den guten Geistern der Emigranten gehörte. 1953, mit Vogel Greif, wagte er sich, weil er dem Vater besser gerecht werden wollte, ein zweites Mal an seine italienische Kindheit, erreichte aber die poetische Dichte der ersten Darstellung nicht mehr. Als Fretz und Wasmuth 1968 eine Neuauflage der Inseln riskierten, geschah es auf Kosten des Autors. Aber er behielt recht, denn diesmal fand das Buch endlich die gebührende Beachtung und verhalf Humm zu einer ganzen Reihe von Bewunderern unter den jüngeren Schriftstellern. Vom begeisterten Echo angespornt, druckte er in der Zeitschrift Unsere Meinung, die er von 1948 bis 1977 mit seiner Frau zusammen herausgab, wiederholt Erinnerungen an seine Zeit in Modena ab, die sich als weitere Inseln dem Buch von 1936 leicht hinzufügen liessen. Noch in der allerletzten Nummer der blitzgescheiten Zeitschrift, im Januar 1977, befand sich unter dem Titel Die Salzkärrner eine solche poetische Reminiszenz. Wenige Tage nach der Auslieferung der Nummer wurde der unermüdliche Literat und Publizist das Opfer eines Verkehrsunfalls - mitten in Zürich, das er gerne seine »zänkische Gattin« nannte und wo er es dennoch fast 60 Jahre ausgehalten hatte.


Die Inseln sind als Nr. 68o der Edition Suhrkamp, die ergänzenden Texte im Zürcher GS-Band Ich bin ein Humm greifbar.(Literaturszene Schweiz)

Humm, Rudolf Jakob

*Modena (Italien) 13.1.1895, †Zürich 27.1.1977, Schriftsteller und Übersetzer. Der Sohn eines Schweizer Kaufmanns wuchs in Modena auf und studierte in München, Göttingen, Berlin und Zürich Physik und Nationalökonomie, ehe er sich 1922, ohne Abschluss, als freier Journalist und Schriftsteller in Zürich niederliess. Mit seiner Frau, der aus Schottland stammenden Künstlerin Lili Crawford, nahm er sich nach 1933 in seiner Wohnung am Zürcher Limmatquai hilfsbereit der dt. Emigranten an – eine Epoche, die er sowohl in seinem Erinnerungsbuch »Bei uns im Rabenhaus« (1963) als auch verschlüsselt in »Carolin. Zwei Geschichten aus seinem Leben« (R., 1944) dargestellt hat. Zu jener Zeit stand H. auch in einem intensiven Briefwechsel mit Glauser und Hesse (»Briefwechsel H. Hesse – R.J. Humm«, hg. von U. und V. Michels, 1977). Literar. debütiert hatte H. 1928 mit dem feinsinnigen psycholog. Roman »Das Linsengericht«, dem 1936 sein wohl bedeutendstes Werk, »Die Inseln«, gefolgt war. In diesem stimmungsvollen, poet., in zahlr. kleine Kapitel aufgeteilten Text hatte H. erstmals seine ital. Kindheit zum Gegenstand des Erzählens gemacht. Er blieb auch in seinen späten Jahren mit Romanen wie »Spiel mit Valdivia« (1964), »Alex der Gauner« (1966), »Der Kreter« (1973), »Der Wicht« (1976), »Universität oder Ein Jahr im Leben des Daniel Seul« (1977) sowie dem erst postum veröffentlichten Zirkusroman »Lady Godiva« (1980) ungewöhnl. produktiv. Auch als Dramatiker war H., der für das Marionettentheater seines Sohnes Ambrosius H. in den frühen 40er Jahren Stücke zu schreiben begonnen hatte, erfolgreich. So gewann er 1951 mit dem skept. Festspiel »Der Pfau muss gehen« den Dramenwettbewerb der Stadt Zürich zum 600-Jahr-Jubiläum des Beitritts zur Eidgenossenschaft. Als Übersetzer war H. v.a. während des Krieges tätig gewesen und hatte, zumeist für die Büchergilde Gutenberg, Werke von I. Silone, Monique Saint-Hélier, O. Spreng u.a. übersetzt. Neben seiner Rezensententätigkeit für die »Weltwoche« produzierte der Journalist H. seit 1948 die unkonventionelle Einmannztschr. »Unsere Meinung«, deren beste Glossen 1969 u.d.T. »Mitzudenken. Reflexionen aus zwei Jahrzehnten« auch als Buch erschienen, während die in der Ztschr. verstreuten Jugenderinnerungen in dem Nachlassband »Ich bin ein Humm« (1982) Eingang fanden. Obwohl vielen ein unbequemer Zeitgenosse, wurde H. 1969 unter allg. Beifall mit dem Literaturpreis der Stadt Zürich geehrt. … Lit.: Loepfe, Barbara/Voss, Christine: R.J.H., in: Helvet. Steckbriefe, hg. von W. Weber, Zürich 1981; Streiff, E.: R.J.H., Nachwort zu »Das Linsengericht«, in: Frühling der Gegenwart, Zürich 1981; Pender, M.: R.J.H., Nachwort zu »Die Inseln«, hg. von C. Linsmayer im »Weissen Programm Schweiz«, Frankfurt a.M. 1990. (Schweizer Lexikon)



Humm, Rudolf Jakob

* 13. 1. 1895 Modena, † 27. 1. 1977 Zürich. - Erzähler, Essayist, Kritiker u. Übersetzer.

H., Sohn eines Aargauer Kaufmanns, wuchs in behüteter Umgebung in Modena auf; er hielt die Erinnerungen an diese italienische Kindheit, die ihm Stoff für seine schönsten literarischen Werke liefern sollte, lebenslang in sich wach. Ab 1915 studierte er in München, Göttingen, Berlin u. Zürich zunächst theorethische Physik, dann Nationalökonomie. 1922 brach er sein Studium ab u. lebte von da an, seit 1923 verheiratet mit der schottischen Künstlerin Lili Crawford, als freier Schriftsteller, Journalist u. Übersetzer in Zürich.
Als Erzähler debütierte H. 1928 mit Das Linsengericht. Analysen eines Empfindsamen (Freib. i. Br.). Der Roman schildert die Erlebnisse einer Gruppe junger Leute während eines winterl. Ferienaufenthalts in den Bergen u. ist v. a. seiner feinsinnigen Psychologie wegen bedeutsam. Bewegend ist auch das Porträt eines gewissen Werner, hinter dem sich der geniale Musikgelehrte Wolfgang Graeser (1906-1928) verbirgt. Das Buch fand u.a. die begeisterte Zustimmung Hesses, mit dem H. von da an in einem intensiven Gedankenaustausch stand (Briefwechsel Hermann Hesse - Rudolf J. Humm. Hg. Ursula u. Volker Michels. Ffm. 1977). Eine erste, außerordentlich poetische u. stimmungsvolle literar. Aufarbeitung der ital. Kindheit brachte der Roman Die Inseln (Zürich 1936. 21968. Ffm. 1980. Neuausg. 1990), der als H.s gelungenste künstlerische Leistung angesehen wird. Das Titelwort bestimmt Konzept u. Stimmungslage; es meint »aus dem Meer des Vergessenen« wieder aufgetauchte Momente gelebten Lebens, die sich zu einem mehr assoziativ als logisch verknüpften Mosaik zusammenfinden.
In den 30er Jahren wurde H.s Wohnung im Zürcher »Rabenhaus« zur Anlaufadresse vieler aus Deutschland emigrierter Schriftsteller u. zu einem Insidertreffpunkt, wo junge Schweizer Autoren (Glauser, Zollinger, Hohl, Adrien Turel, Albert Bächtold) ihre Arbeiten vorstellen u. beurteilen lassen konnten. H. hat diese Epoche lebendig beschrieben im Memoirenbuch Bei uns im Rabenhaus. Aus dem literarischen Zürich der Dreissigerjahre (Zürich 1963. Neuausg. 1975). Romanhafte Gestaltung fand diese Zeit in Carolin. Zwei Geschichten aus seinem Leben (Zürich 1944), einem Werk, das sich als Schlüsselroman der dt. Emigration im Zürich der Jahre 1933/34 lesen läßt (siehe dazu: Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. Lpz. 21981). Ab 1938 leistete H. auch als Übersetzer einen Beitrag zur geistigen Öffnung der schweizerischen Enge. Vorwiegend für die sozialistische »Büchergilde Gutenberg« übertrug er Werke von Ignazio Silone, Monique Saint-Hélier, Denis de Rougemont, Orlando Spreng, C.-F. Landry u. andere. Für seine Kinder richtete H. um 1940 in seinem Haus ein Marionettentheater ein, für das er Stücke wie Theseus und der Minotaurus (Zürich 1943) schrieb. Für die große Bühne war er erfolgreich, als er mit Der Pfau muß gehen (Zürich 1951), einem »Festspiel, das keines sein will«, den ersten Preis im Dramenwettbewerb der Stadt Zürich anläßlich der 600-Jahr-Feier des Zürcher Beitritts zur Eidgenossenschaft gewann.
Obwohl H. seit 1936, als ihn die Moskauer Prozesse zu einem Umdenken bewogen hatten, nicht mehr parteipolitisch engagiert war, behielt er dennoch zeitlebens eine dezidiert gesellschaftskritische, »linke«, aber in keiner Weise orthodoxe Haltung bei. Dieser Nonkonformismus kommt v. a. in seiner »Einmannzeitschrift« »Unsere Meinung« zum Ausdruck, die er von 1948 bis an sein Lebensende als weitgehend einziger Textverfasser selbst redigierte, druckte, verlegte u. vertrieb. Unter den Romanen, die er nach 1945 noch veröffentlichte, verdienen Der Vogel Greif (Zürich 1953) u. Der Kreter (Zürich 1973) Beachtung. Mit dem ersten unternahm H. den Versuch, seine ital. Kindheit ein zweites Mal, aber jetzt mit größerer Faktengenauigkeit, zu gestalten, während Der Kreter sich kritisch mit dem zeitgenöss. Zürich der Hochkonjunktur auseinandersetzt. Eher unterhaltenden Wert haben Spiel mit Valdivia (Zürich 1964), ein humoristischer Gesellschaftsroman um einen hochstaplerischen falschen Schachmeister, Alex der Gauner (Bern 1966), ein in Süddeutschland spielender Schelmenroman, u. Lady Godiva (Zürich 1980), ein Zirkusroman. Weitere Elemente aus H.s Lebensgeschichte sind in Universität oder Ein Jahr im Leben des Daniel Seul (Zürich 1977) sowie im postum erschienenen Band Ich bin ein Humm (Zürich 1982) enthalten, der Texte aus »Unsere Meinung« zusammenfaßt. Auszüge aus dieser Zeitschrift sind auch u. d. T. Mitzudenken. Reflexionen aus zwei Jahrzehnten (Bern 1969. Nachw. von François Bondy) erschienen.
H., in dessen Schreiben sich intellektuelle Verve, sprachl. Präzision u. gelegentlich eine gewisse Spröde manifestieren, stand zwischen Tradition u. Moderne u. nahm in den Augen vieler jüngerer Schweizer Literaten die Position eines glaubwürdigen Vermittlers ein. 1969 erhielt er den Literaturpreis der Stadt Zürich.

WEITERE WERKE: Glimmer u. Blüten. Ges. N.n. Herrliberg 1945. - Die vergoldete Nuss. Basel 1951 (N.). - Die Schuhe des Herrn Lamy. Szenen aus der Pariser Kommune. Zürich 1953 (D.). - Sieben Märchen der Elisa Barbanti. Zürich 1953. - Springinsfeld u. Sauerkloß oder Das Freudenfest. Ein Märchen. Aarau 1954. - Kleine Komödie. Zürich 1958 (R.). - Die Nelke oder Freut euch des Lebens. Zürcher Novelle. Zürich 1962. - Der Wicht. Zürich 1976(R.).

LITERATUR: Barbara Loepfe u. Christine Voss: R. J. H. In: Werner Weber (Hg.): Helvet. Steckbriefe. Zürich 1981. - Eric Streiff: Nachw. Zu R. J. H.: Das Linsengericht. Hg. Charles Linsmayer. In: Frühling der Gegenwart. Zürich 1981. - Malcolm Pender: Nachw. zu: R. J. H.: Die Inseln. Ffm. 1990.
(Bertelsmann Literaturlexikon)

Porträt im Bund vom 12.01.1995