Thomas Hürlimann *1950

«Während all unsere Kulturfunktionäre von ‹Öffnung› und ‹Europa› faseln, geh ich stur und lächelnd den umgekehrten Weg. Die Welt trifft man schreibend nur dann, wenn man sie zu Hause und bei sich selber sucht.» Als Thomas Hürlimann dies 1995 in einem Interview formulierte, war der am 21.Dezember 1950 in Zug geborene Schriftsteller diesen Weg schon eine ganze Weile erfolgreich gegangen. 1981 hatte er, damals Regieassistent am Berliner Schiller Theater, auf Anhieb den Durchbruch als Dramatiker und Erzähler geschafft. Im Schauspielhaus Zürich war unter Werner Düggelin «Grossvater und Halbbruder» zur Uraufführung gelangt: ein Stück, das am Beispiel eines Asylanten, der sich als Hitlers Halbbruder ausgibt, die Schweizer Asylpolitik von 1939 bis 1945 einer kritischen Revision unterzog. Die Titelgeschichte des Bandes «Die Tessinerin», mit dem im gleichen Jahr nicht nur ein grosser neuer Erzähler , sondern auch ein neuer Verlag, der Zürcher Ammann­Verlag, debütierte, protokolliert das erschütternde Sterben einer Lehrersfrau aus jenem Wilerzell am Sihlsee, das bald einmal Hürlimanns Schreib­Refugium sein sollte. Inspiriert ist der Text durch das frühe Sterben von Hürlimanns Bruder Matthias, das auch für weitere Werke, etwa die Erzählung «Das Gartenhaus» von 1989, psychisch konstituierend sein sollte. Für den Dramatiker blieb die Schweiz das zentrale Thema. Die historische in Schauspielen wie dem «Gesandten» (1991) – ein Drama, das Hans Frölicher, Berns Mann in Hitlers Berlin, von der Sündenbock­Rolle zu entlasten sucht –, dem Gottfried­Keller­Stück «Das Lied der Heimat» (1998) oder der Komödie «De Franzos im Ybrig», die den Einfall der Franzosen von 1789 ins Ybrigtal persifliert und die Volker Hesse 2011 in Wettingen nach zwanzig Jahren glorios wiederauferstehen liess. Der zeitgenössischen Schweiz wiederum galten Stücke wie «Stichtag» (1984) – das langsame Sterben des Hühner­Tycoons Damunt inmitten hybrider Pläne für ein glanzvolles Comeback – oder «Der letzte Gast» (1990), wo die Schweiz der Hochkonjunktur als wirtschaftlich blühendes, gesellschaftlich und umweltpolitisch dagegen scheintotes Land erscheint – so, wie sie 1992 auch der Erzählband «Die Satellitenstadt» spiegeln sollte. Wobei dieser Text dann wieder theatralisch umgesetzt wurde für die 2002 von Christoph Marthaler uraufgeführte Komödie «Synchron». Zeit ­ und Welt kritik in eschatologischer Dimension brachte schliesslich Hürlimanns Adaption von Calderóns Welttheater zum Ausdruck, das er mit Volker Hesse 2000 und 2007 vor jene Einsiedler Stiftsschule pflanzte, wo er einst als kuttentragendes Mönchlein das Gymnasium besucht hatte. Erzählerisch am fulminantesten ist Hürlimann tatsächlich da, wo er die Welt «bei sich selber» sucht. Im Roman «Der grosse Kater», der 1998 seinen Vater, Bundesrat Hans Hürlimann, zu einer ebenso grossartigen wie im Grunde doch gescheiterten Figur machte. In der Novelle «Fräulein Stark» von 2001, die unter Evokation eines Praktikums beim St. Galler Stiftsbibliothekar und dessen Haushälterin die erste zaghafte Konfrontation eines jungen Mannes mit der Sexualität thematisiert, und im bislang letzten Roman, «Vierzig Rosen» von 2006, der literarischen Auseinandersetzung mit der toten Mutter. Die Familie als Möglichkeit des Einblicks in den grossen Zusammenhang – und der Tod als Ansporn zum Schreiben von Anfang an: «Als mein Bruder starb, kam der Tod in unser Haus. An seiner Seite begann ich, die Welt mit anderen Augen zu sehen.»

Besprechnung "Heimkehr" in der NZZ am Sonntag vom 26.08.2018

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 10.08.2022