Ricarda Huch

Sie war die führende Dichterin der deutschen Neuromantik, sah.in Böcklin ihr ästhetisches Vorbild und stellte den Naturalisten und ihrer Zurschaustellung von sozialer Not und nackter Triebhaftigkeit trotzig das Lob der Schönheit, die Faszination der Melancholie und die Verherrlichung des genialischen Individuums gegenüber. Die prägenden Impulse für all das aber empfing sie in Zürich, wo der traditionsbewusste Seldwylergeist, vor allem aber die von Bern herüberstrahlende Förderung durch Josef Viktor Widmann ihr aufbrechendes Talent in die entsprechenden Bahnen lenkte. »Es ist mir ein ganz unbeschreiblicher Trost«, schrieb sie nach Beendigung ihres Dramas Evoë nach Bern, »dass ich so fest auf Ihr Urteil baue; wenn Sie mir sagen würden, Sie hielten es für verfehlt, würde ich dieses Stück, und etwa auch das Dichten überhaupt aufgeben, wenn ich das über mich gewinnen könnte.«
Damals lebt die Braunschweiger Kaufmannstochter Ricarda Huch schon fast vier Jahre in Zürich, hat die Matura nachgeholt und als Historikerin den Doktor gemacht. Nun arbeitet sie halbtags in der Stadtbibliothek, gibt ein paar Schulstunden und schreibt Gedichte, Dramen und einen ersten Roman. Die erstrebte Einbürgerung verhindert einzig der Umstand, dass sie keine rechtsgültige deutsche Bürgerurkunde beibringen kann. »Ebenmässig und stattlich gewachsen, mit Gesichtszügen, in denen sich schon die künftige Bedeutung aussprach, und in einer Kleidung, die sich harmonisch der ganzen Erscheinung anpasste, lenkte sie sofort meine Aufmerksamkeit auf sich«, erinnert sich Jahrzehnte später Hermann Escher, Direktor der Zentralbibliothek Zürich. Aber die erste weibliche Bibliothekarin der Schweiz sah wohl artiger aus, als sie war, denn sie verdrehte nicht nur laufend jungen Männern den Kopf, sondern brachte sogar eine Dame der Gesellschaft dazu, sich ihretwegen in den See zu stürzen!
Und bei alldem laborierte sie noch ständig an jener unheilbaren Krankheit herum, vor der sie nach Zürich geflohen war: der Liebe zu ihrem Cousin Richard Huch, dem Mann ihrer Schwester, den sie später in zweiter Ehe tatsächlich noch heiratete, um es dann ein Leben lang zu bereuen ...
Nach neun Jahren verlässt sie Zürich wieder. »Ich habe deutlich das Gefühl, dass ich hier nur noch verkümmern kann«, hatte sie Widmann um 1895 in Zürich schon 1895 gemeldet. Dennoch hat sie Zürich und die Schweiz in Ludolf Ursleu, der romanhaften Gestaltung der verrückten Liebe zum Cousin, mit ebenso begeisterten Tönen gepriesen wie in Vita somnium breve, dem Roman mit dem Böcklin-Titel. Ihr schönster Text über unser Land aber heisst Frühling in der Schweiz. Doch diese Erinnerungen schrieb sie erst 1938, nachdem sie ihre Enttäuschung über das Abseitsstehen der Schweiz im Weltkrieg verwunden und sich trotz ihres deutschnationalen Standpunkts als mutige Hitler-Gegnerin profiliert hatte. 1994 werden die letzten Teile ihres Nachlasses zugänglich, und vielleicht kommt dann auch der geheimnisvolle Briefroman Der Rachedolch zum Vorschein, der um 1888 in Zürich entstand!


Ricarda Huchs Gesammelte Werke sind bei Kiepenheuer, Frühling in der Schweiz auch als Reclam-Band 7638 greifbar. (Literaturszene Schweiz)

Ricarda Huch

«…das wahre, das unentstellte Deutschland» - Ricarda Huch und ihre lebenslange leidenschaftliche Liebe zur Schweiz

Sie sei «nicht nur die erste Frau Deutschlands», urteilte Thomas Mann 1924, als Ricarda Huch ihren sechzigsten Geburtstag feierte, «sondern wahrscheinlich die erste Europas.» Von der neuromantisch-sentimentalen Romanschriftstellerin war sie zur begnadeten Historikerin geworden, die der Zerrissenheit ihrer Zeit die Darstellung früherer Epochen als exemplarische Lehrstücke gegenüberstellte, so unterschiedliche Gestalten wie Garibaldi, Luther, Bakunin und den Freiherrn von Stein mit faszinierender neuer Leuchtkraft zu versehen wusste und im christlichen Glauben trotz all seinen Paradoxien den einzig denkbaren Ausweg aus der Identitäts- und Sinnkrise des europäischen Menschen erkannte. Und die allem Konservativismus und Nationalismus zum Trotz neun Jahre später, als das Dunkel des «Tausendjährigen Reiches» über Deutschland hereinbrach, auch den grössten Anfechtungen und raffiniertesten Verführungen gewachsen sein würde und nicht nur als Historikerin und Schriftstellerin, sondern auch als Staatsbürgerin und Privatperson aktiven geistigen Widerstand gegen ein Regime leisten sollte, das ihr Idealbild von einem humanen, aus christlich-abendländischer Tradition herausgewachsenen Deutschland mit Füssen trat.
Dass sie die Kraft zu all dem aufbrachte, dass sie ihre Liebe zu Deutschland und ihr Nationalgefühl immer auch kritisch zu hinterfragen vermochte, dass sie nicht zögerte, den deutschen Chauvinismus und Grössenwahn zu verdammen, und sich dennoch mit den Hungernden von 1918 ebenso solidarisch fühlen konnte wie mit den Trümmerfrauen von 1946: das alles hat sehr viel mit jenem schweizerischen Korrektiv zu tun, das sich Ricarda Huch als Studentin und angehende Schriftstellerin in Zürich erarbeitet hatte und das sie als ein erhalten gebliebenes Musterstück jenes untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation lebenslang der aktuellen deutschen Wirklichkeit gegenüberstellte. «Man kann mit Recht sagen, dass die Schweiz sich deutscher erhielt als Deutschland», konnte sie formulieren, und als sie sich 1928 an ihre frühen Schweizer Jahre erinnerte, zeichnete sie ihre zweite Heimat, deren Bürgerin sie gerne geworden wäre, mit all dem aus, was sie sich für Deutschland vergeblich wünschte: «Mein beinahe zehnjähriger Aufenthalt in der Schweiz hat grossen Einfluss auf mich gehabt. Das organische und aristokratische Wesen der schweizerischen Einrichtungen, die Teilnahme aller Kreise des Volkes am öffentlichen Leben, das Selbstbewusstsein der unteren Klassen, die überall spürbare Tradition, der Ernst, mit dem alle Probleme behandelt werden, alles das erschien mir deutscher als Deutschland und als die mir gemässe Atmosphäre. Selbst an den schweizerischen Dialekt gewöhnte ich mich so, dass mir das Hochdeutsch bei gelegentlichen Besuchen zu Hause Widerwillen erregte.» Aber nicht nur das Vorbild des demokratischen Staatswesens, dessen Prinzipien sie sich während den Studien zu ihrer Dissertation über die Neutralität der Eidgenossenschaft in Zürich und Bern systematisch erarbeitet hatte, auch die lebenslange freundschaftliche Verbundenheit mit ihrem Schweizer Bekanntenkreis und nicht zuletzt auch die Liebe zur Schweizer Landschaft, in der sie sich geborgen fühlte wie nirgends sonst, sind konstituierende Elemente jenes Schweizer Heimatgefühls, das Ricarda Huch lebenslang in sich wach hielt, ohne sich deswegen weniger als Deutsche zu fühlen. «Während ich versuchte, Schweizerin zu werden», heisst es im 1938 entstandenen Erinnerungsbuch «Frühling in der Schweiz», «hatte ich nie das Gefühl, dadurch mein deutsches Vaterland aufzugeben oder gar zu verraten.»
1887-1896: Zürich
Erstmals Schweizer Boden betritt die Braunschweiger Kaufmannstochter Ricarda Huch 1883, im Alter von 19 Jahren: sie begleitet ihren Vetter und Schwager Richard Huch und dessen Frau Lilly auf eine Ferienreise. Als Lilly Huch vorzeitig nach Braunschweig zurückfährt, nimmt jene Liebesgeschichte mit Richard Huch ihren Anfang, die das Leben der Dichterin über alle Höhen und Tiefen einer chaotisch-sentimentalen Leidenschaft hinweg bis zu Richards Tod im Jahre 1914 kennzeichnen wird, vor allem aber ihre Schweizer Jahre massgeblich prägt. 1886 sind die beiden heimlich in der Schweiz, und nachdem Ricarda Huch 1887 in Zürich Wohnsitz genommen hat und sich zunächst auf die Matura vorbereitet, um dann an der Philosophischen Fakultät der Universität zu studieren – das Frauenstudium ist damals in Deutschland noch nicht möglich – , bleibt sie in fast täglichem Briefwechsel und während häufigen heimlichen Besuchen intensiv mit Richard in Verbindung, obwohl sie verschiedentlich Beziehungen zu andern Männern aufnimmt und sich 1893 auch für kurze Zeit mit dem Basler Dichter Emanuel Zaeslin verlobt.
Sie selbst outet sich erstmals 1888 als Schriftstellerin. Einem «Redacktor» in Bern habe sie einige Gedichte geschickt, teilt sie Richard am 2.Januar jenes Jahres mit, und tatsächlich druckt Josef Viktor Widmann am 22.Januar 1888 unter dem Pseudonym R.I.Carda im «Bund» ihre ersten Gedichte. Im Juni bereits veröffentlicht er ihre erste Erzählung, «Die Goldinsel», und von da an avanciert Widmann zum literarischen Mentor der angehenden Schriftstellerin, kritisiert ihre Entwürfe, vermittelt den Zugang zu Verlagen, rezensiert ihre Bücher und amtet des öfteren auch als Berater in Herzensangelegenheiten. Den Sommer 1888 verbringt Ricarda Huch schreibend in Rüti ob Meiringen und lässt sich da in Berner Tracht fotografieren, Bern besucht sie erstmals 1890 («Die schöne Stadt machte grossen Eindruck auf mich, vor allem das Münster mit dem noch flachen Turm, den ich von der Pension Hertenstein sah, wo ich abgestiegen war.»). Dem Mentor Widmann aber tritt sie 1891 erstmals persönlich gegenüber, als dieser die eben magna cum laude zum Dr.phil.I promovierte Briefpartnerin in Zürich besucht und sie die Visite einige Wochen später in Widmanns Haus Leuenberg am Berner Muristalden erwidert. Als Ricarda Huch 1896 Zürich verlässt und als Lehrerin nach Bremen zieht, hat sie nebst ihrer Dissertation über die Neutralität der Eidgenossenschaft bereits einen Band Gedichte, den mit der Schweiz in enger Beziehung stehenden Roman «Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren», den Erzählband «Der Mondreigen von Schlaraffis» und die Dramen «Der Bundesschwur» und «Evoë!» publiziert. Der Lesezirkel Hottingen hat 1893 ihr lyrisches Spiel «Dornröschen» aufgeführt und als 1895 die neue Tonhalle eingeweiht worden war, stammte das Eröffnungsspiel «Von den vier Zürcher Heiligen» von der damaligen Lehrerin an der Städtischen Töchterschule, Ricarda Huch.
Obwohl sie in der Folge ihren Wohnsitz in Bremen, Triest, Wien und München hat, kehrt Ricarda Huch auch in den folgenden Jahren immer wieder in die Schweiz zurück. So verbringt sie schon den Sommer 1897 wieder bei Emmi Reiff in Zürich und will in jenem Herbst nach Bern zu Josef Viktor Widmann ziehen, was dieser mit einem erschreckten Brief durchkreuzt. 1899, als sie schwanger ist, lässt sie sich in Zürich bei Anna Heer untersuchen und kann nur deshalb nicht wieder in der Schweiz Wohnsitz nehmen, weil ihr damaliger Ehemann, Ermanno Ceconi, mit seinem italienischen Diplom nicht in der Schweiz als Zahnarzt arbeiten kann und sie in Zürich keine Niederlassung bekommen. «Die Schweiz ist doch das schönste und glücklichste Land», schreibt sie an jenem 11.Juni an Widmann nach Bern, «und ich kann es ihr nie verzeihen, dass sie mich herausgeworfen hat.» Drei Jahre später, im Frühling 1902, ist sie wieder in Zürich anzutreffen, und 1905 verbringt sie die schwierige Zeit vor ihrer Scheidung mit Ermanno Ceconi zurückgezogen in der Limmatstadt. Auch im Herbst 1906, als die Scheidung vollzogen ist und sie sich wieder Richard Huch anzunähern beginnt, den sie 1907 heiraten wird, lebt sie mit Tochter Marietta zwei Monate in Zürich. Zehn Jahre lang lässt sich dann nichts mehr über längere Schweizer Aufenthalte in Erfahrung bringen, dafür um so mehr über Kontakte und Freundschaften mit neuen und alten Schweizer Bekannten. So ist sie seit Jahren befreundet mit dem Schweizer Verleger Ernst Reinhardt, nach der Scheidung von Richard Huch (1912) tritt sie in engeren Kontakt zum Schweizer Gelehrten Heinrich Wölfflin, und 1912 lernt sie in München auch Fritz Strich, den nachmaligen Berner Germanistikprofessor, kennen.
1916-18: Aeschi und Bern
Eines Magenleidens wegen und weil sie sich von Heinrich Wölfflin wieder lösen will, reist Ricarda Huch am 22. Juli 1916 mit ihrer Tochter Marietta zusammen aus München zunächst nach Winterthur und dann, als Pläne für einen Engadin-Aufenthalt sich zerschlagen, nach Aeschi bei Thun, wo der Schriftsteller Eduard Behrens sich ihrer annimmt und dafür sorgt, dass sie in einer kleinen Dépendance des Hotels Blümlisalp eine günstige Unterkunft findet. Als es in Aeschi zu kalt wird, geht’s weiter nach Hilterfingen am Thunersee und schliesslich nach Bern, wo Ricarda Huch in der Pension Bois-Fleury, Riedweg 17, Wohnsitz nimmt und in freundschaftlichen Kontakt zur Familie des Regierungs- und Ständerats Leo Merz, zu dessen Bruder Viktor Merz, zu den Malern Martin Lauterburg und Ernst Kreidolf und zum Arzt Adolf von Salis und dessen Familie tritt.
«Ich war kaum einen Tag in der Schweiz, so fiel alles von mir ab, Wunsch und Sorge, Sehnsucht, so vieles, was mir sonst wichtig war, ohne im Grunde wichtig zu sein», schreibt Ricarda Huch am 8.August 1916 aus Aeschi an Marie Baum. Dort führen Mutter und Tochter unter dem Titel «Kunterbunt» vier Wochen lang gemeinsam ein«Tagebuch zweier Weltbürger». In Bern dann entdeckt die Dichterin Jeremias Gotthelf für sich und publiziert bei Francke ihren Vortrag «Jeremias Gotthelfs Weltanschauung», den sie am 27.Januar 1917 in Winterthur gehalten hat. Weniger Glück hat ihr der Vortrag «Über den Begriff des Helden»gebracht, den sie Ende 1916 in Zürich und St.Gallen hielt: Ihre pathetische Verherrlichung des Heldischen und ihr spezifisch deutscher Standpunkt erregen Ärgernis und führen, z.B. im linken Zürcher «Volksrecht», zu entrüsteten Pressereaktionen.

Zwischen den Fronten

Wie sehr damals die deutsche und die schweizerische Heimatliebe sie innerlich gespalten haben müssen, zeigt auch ein heute im Archiv der Monacensia in München aufbewahrtes Manuskript, in dem Ricarda Huch zu der Kontroverse Stellung bezieht, die 1916 in Schweizer Zeitungen geführt worden ist, nachdem deutsche Offiziere auf dem Rütli den Geburtstag von Feldmarschall Hindenburg gefeiert haben. Für Ricarda Huch hat da ein «stammesverwandtes Volk seiner Begeisterung für einen Mann Ausdruck» gegeben, der es, nicht anders als Wilhelm Tell die alten Schweizer, «aus Feindesgefahr befreite». Überhaupt: was die Schweizer Neutralität angeht, über die sie doch ihre (bewundernde) Doktorarbeit geschrieben hat, kommt sie jetzt allmählich zu jener Einschätzung, die sie in den zwanziger Jahren immer wieder äussern sollte – am deutlichesten in ihrer Einleitung zu einer Gottfried-Keller-Ausgabe im Jahre 1921, wo sie befand, man habe im der Schweiz im Verlaufe der jüngeren Entwicklung bloss aus Schwäche auf die Neutralität gepocht und den Krieg als barbarisch verunglimpft, während man gleichzeitig die kriegerische Vergangenheit «als ein Prachtstück der Heldenvolksgeschichte» gefeiert habe. «Neutralität scheint, wie es ja auch im Worte liegt, eher zu bedeuten, dass man keinen von allen, als dass man alle liebt», heisst es in dem Text von 1916 spürbar enttäuscht und ganz so, als wolle die beleidigte deutsche gegen die zu wenig altruistische schweizerische Freiheitsliebe protestieren.

Berner Freundschaften

Auch der Berner Aufenthalt hat eine Reihe von Freundschaften hervorgebracht, die lebenslang andauern sollten: diejenige zur Familie Merz vor allem, zu Leo Merz, zu dessen Bruder, dem Bundesrichter Viktor Merz, aber auch zu Leo Merz’ Ehefrau Frieda, zu deren Töchter Eva und Elsbeth Merz, welch letztere in München,wo sie studiert, fast als eigene Tochter gilt und die Ricarda Huch immer wieder begleitet, wenn sie nach Bern in das gastliche Haus in der Elfenau «heimkehrt» oder wieder nach München zurückreist. Dazu kommen die Freundschaften zur in Bern-Brückfeld domizilierten Marie Schatzmann, Tochter von alt Bundeskanzler Hans Schatzmann und nachmalige Gattin des Schriftstellers Adolf Voegtlin, zu den von Salis (Helene Baumgarten-von Salis insbesondere), zu Edgar Bonjour sowie zum Schweizer Kunsthistoriker und Wölfflin-Schüler Ulrich Christoffel – Freundschaften, die sich alle in Ricarda Huchs Briefen in die Schweiz und an Schweizer Freunde dokumentieren lassen, worin sie sehr oft persönlicher und direkter als in anderen über ihr Befinden und ihr Schicksal Auskunft gibt und aus denen immer wieder ihre Anhänglichkeit an das Land zum Ausdruck kommt, dem bis zuletzt ihre geheimste Sehnsucht gehörte.

In dunkler Zeit

In den dreissiger Jahren kommt eine neue Dimension in Ricarda Huchs Beziehungen zur Schweiz: Als rein deutsche Verlage Schwierigkeiten bekommen, wenn sie Bücher jener Frau verlegen wollen, die 1933 aus Protest gegen den Ausschluss Alfred Döblins aus der Berliner Akademie für Sprache und Dichtung ausgetreten ist, wird Martin Hürlimann vom Atlantis-Verlag, Zürich und Berlin, ihr wichtigster Verleger. Nun ist sie häufig am Zürcher Sitz des Verlags anzutreffen und knüpft auch da wieder neue Beziehungen. Diejenige zur Primarlehrerin Hilde Brunner z.B. , die während des Krieges in einem berührenden Briefwechsel mit der Dichterin steht. 1934 hat der Atlantis-Verlag zu ihrem 70.Geburtstag den Band «Ricarda Huch. Persönlichkeit und Werk in Darstellungen ihrer Freunde» herausgebracht. 1938 bringt Hürlimann den Band «Frühling in der Schweiz» heraus, worin die Dichterin sich wehmütig an ihre Zürcher Studienjahre erinnert und auch wieder ganz auf jene positive, ja schwärmerische Haltung zurückkommt, die sie als Zürcher Studentin und Lehrerin der Schweiz gegenüber eingenommen hatte: «Hier in der Schweiz schien mir das wahre, das unentstellte Deutschland zu sein, dem ich mich zugehörig fühlte.» 1939 wird in Bern Ricarda Huchs 75.Geburtstag gefeiert und besucht sie in Zürich die Schweizerische Landesausstellung.
Nach Kriegsbeginn aber wird es für die Dichterin schwierig, in die Schweiz zu reisen, und es gelingt ihr denn auch nur ein einziges Mal: im Mai 1942, als die Universität Zürich eine Feier zu ihrem fünfzigjährigen Doktorjubiläum veranstaltet und sie vorher und nacher ihre Berner Freunde besuchen kann. «Wenn ich in Bern über den Markt ging, durch Stände voll Blumen und Berge von Orangen, war ich ganz überwältigt. Ich habe das Bild des Überflusses noch leuchtend vor Augen», schreibt sie nach ihrer Rückkehr nach Jena Ulrich Christoffel.
Ein letztes Mal sieht die bereits schwer von Krankheit und Alter Gezeichnete die Schweiz im Frühling 1947, als sie an ihrem (nicht mehr zustandegkommenen) Gedenkbuch über den deutschen Widerstand arbeitet. Im Dienstwagen von Rudolf Paul, Oberbürgermeister von Gera, wird sie mit Tochter Marietta zusammen an die Schweizer Grenze gebracht, von wo aus die beiden nach Bern zur Familie Merz reisen. «Es kommt mir wie ein Traum vor. Ihre inzwischen uralt gewordene Ricarda Huch», lautet der Berner Postkartengruss vom 4.März 1947 an Ulrich Christoffel, und von Luzern aus, wo sie und Marietta anschliessend hinreisen, schreibt sie, Aristokratin wie eh und je, dem Enkel Alexander nach Jena, das schönste Denkmal, das es gebe, sei das Luzerner Löwendenkmal «zur Erinnerung an die Schweizer, die zu Beginn der Französischen Revolution, den König verteidigend, gefallen sind», um den Brief dann humorvoll-wehmütig zu beenden mit: «Aus allen Schaufenstern lachen einen Schokolade-Osterhasen an, und wir können Dir keinen schicken!» Am 9.April liest Ricarda Huch im Radiostudio Zürich einen Text über den Fliegerangriff vor, der am 19.März 1945 Jena in Schutt und Asche gelegt hat, und am 17.April verlässt sie in Begleitung ihrer Tochter die Schweiz in Richtung Freiburg im Breisgau. Genau sieben Monate später, am 17.November 1947, erliegt die Dichterin im Gästehaus der Stadt Frankfurt in Kronberg (Taunus) der Lungenentzündung, die sie sich auf der Ausreise aus der sowjetisch besetzten Zone in den Westen geholt hat. Das Penicillin, das der behandelnde Arzt mit Hilfe des Vatikans zu bekommen hofft, ist nicht mehr rechtzeitig eingetroffen.
Der Brief, in dem sie die Strapazen ihrer letzten Reise anschaulich darstellt, ist an die Berner Freundin Eva Merz gerichtet. Und «Urphänomene», das Buch, das als letztes noch zu ihren Lebzeiten erschienen ist und das als ihr eigentliches dichterisches Vermächtnis angesehen werden muss, beginnt mit einer Erinnerung an den Berner Oberländer Aufenthalt von 1916 und deklariert in wehmütiger Nostalgie jene längstvergangene kurze Zeit in dem ungeheizten Häuschen in Aeschi bei Spiez zur glücklichsten ihres Lebens. «Aeschi, wo ich mich bis in den Himmel entrückt gefühlt hatte», heisst es da, und: «Das Dasein, das wir führten, schien allem gewöhnlichen Menschentum entrückt in einer seligen Region sich abzuspielen.»
(Erstdruck: Der Kleine Bund, 9.Juni 2001)