Sophie Haemmerli-Marti 1868–1942

Viele Generationen lang haben Mütter ihren Kindern eines der schönsten Gedichte in Schweizer oder besser: Aargauer Dialekt vorgesagt und daran ihre helle Freude gehabt: «Jo eusi zwöi Chätzli / sind tusigi Frätzli, / händ schneewissi Tätzli / und Chreueli dra ...» Aber ganz wenige nur haben gewusst, dass die Verse von der am 18. Februar 1868 in Othmarsingen geborenen und am 19. April 1942 in Zürich verstorbenen Sophie Haemmerli-Marti stammen, der das Schönste gewährt wurde, was eine Dichterin erreichen kann: dass ihr Werk zum anonymen Allgemeingut wird. «Hochgeehrte Frau, lieber Collega. Fast, aber nicht ganz. Nie ganz. Kann auch nie ganz werden, weil nur Lyriker ersten Ranges ganz gut sein können.» So reagierte Carl Spitteler am 11. Dezember 1907, als Sophie Haemmerli-Marti ihm einen Zyklus hochdeutscher Gedichte vorgelegt hatte. Spitteler, der sie mit Tasso, Ariost und Schopenhauer klassisch schulen wollte, vermochte die Aargauer Bauerntochter aber kaum stärker zu beeinflussen als seinerzeit Frank Wedekind, der die Achtzehnjährige auf Schloss Lenzburg für das provokative Raffinement von «Frühlings Erwachen» hatte begeistern wollen. Wie ihre berühmteren Freunde suchte zwar auch die Lehrerin und Gattin des Lenzburger Arztes Max Haemmerli dem Epigonentum und der Heuchelei des Fin de Siècle zu entkommen, aber sie fand die ihr angemessene Lösung weder bei Wedekinds Enttabuisierung der Sexualität noch bei Spittelers antiken Vorbildern, sondern an der Wiege ihrer Kinder und in der Mundart ihres Heimatdorfes Othmarsingen. 1892, als sie sich in Bex einer Kur unterziehen musste, erdachte sie sich, geplagt vom Heimweh nach ihrem zweijährigen Töchterchen, eine Handvoll mundartliche Kinderlieder und veröffentlichte sie mit Unterstützung des Dialektforschers Jost Winteler 1896 bei Karl Henkell in Zürich unter dem Titel «Mis Chindli». Obwohl die unsentimentalen, schlichten, in makellosem Othmarsingerdeutsch daherkommenden Verse überraschend viel Anklang fanden, ging es viele Jahre, bis Sophie HaemmerliMarti ihre Versuche aufgab, auch auf Hochdeutsch zu reüssieren, und sich zur Erkenntnis durchrang: «Entweder ist einer ein Dichter oder ist kein Dichter, und welchem Instrument er den Gesang seiner Seele anvertraut, ist nebensächlich.» Erst ab 1913 liess sie ihrem Erstling weitere Dialektbücher folgen: die Hans Thoma gewidmeten, entzückend humorvollen «Grossvaterliedli», die in enger Tuchfühlung mit Jost Winteler entstandene bedeutsame Sammlung «Im Bluescht» und den Zyklus «Allerseele», der auf erschütternde Weise der Toten des Weltkrieges gedenkt. Noch persönlicher, intimer wirken die Verse des Bandes «Rägeboge», die sie 1941 in Erinnerung an ihren toten Gatten publizierte. Dass ihr Dialekt auch in der Prosa nichts von seinem originellen Kolorit einbüsste, bewies sie 1939 mit «Mis Aargäu», den Erinnerungen an die Kindheit und Jugend. Als sie 1942 in Zürich starb, war Sophie Haemmerli-Marti eben damit befasst, dem Dialekt mit dem Band «Passionssprüch» auch noch das Allerschwerste zuzumuten: die Darstellung von Jesu Leidensgeschichte. Wer sieben Jahrzehnte nach ihrem Tod die 2003 erschienene vierhundertseitige Gesamtausgabe ihrer Werke durchgeht, begegnet in Sophie Haemmerli-Marti einer Lyrikerin, die gerade darum «ersten Ranges» ist, weil sie sich im Gegensatz zu Spitteler radikal auf das beschränkte, was sich ihr aus unmittelbarem Erleben und in ihrem ureigensten Tonfall zum Gedicht formte.