Eugen Gomringer *1925

In der ersten Nacht schläft es, zum Entsetzen der Grossmutter, nach Indianerart auf dem blossen Boden, das «kleine Negerli», das ihr Sohn im bolivianischen Esperanza mit der Indianerin Delicia gezeugt hat und das nun – wir schreiben 1927 und Eugen ist gerade mal zwei Jahre alt – bei den Grosseltern in Herrliberg am Zürichsee aufwachsen soll. Bald aber geht’s im Leben ganz europäisch gesittet weiter: mit dem Schulbesuch in Zürich, einem Volontariat im noblen Hotel Storchen an der Limmat, dem Versuch, Berufsmilitär zu werden, und endlich mit dem Studium von Phil.I und Nationalökonomie in Bern. In der Bundesstadt aber kommt die Literatur zu ihrem Recht. Angeregt durch Max Bill und Richard P. Lohse findet Eugen Gomringer, so heisst der Student und freie Mitarbeiter der Tageszeitung «Der Bund» mit vollem Namen, von seinen romantischen frühen Gedichten zu einem radikal konkreten Stil und gründet 1953 im Café Rio mit Marcel Wyss und Dieter Roth die Avantgarde-Zeitschrift «Spirale». «Konstellationen» nennt er die im gleichen Jahr publizierten ersten konkreten Gedichte, in denen die Anordnung der Worte wichtiger ist als ihr – durch freie Assoziationen und nicht durch logische Verknüpfung bestimmter – Gehalt: «gleichmässig gleich gleichmässig ungleich ungleichmässig / gleich ungleichmässig ungleich gleichmässig / gleich / gleichmässig ungleich ungleichmässig gleich / ungleichmässig ungleich gleichmässig gleich gleichmässig». «Vater der deutschen Nachkriegsmoderne» wird der Literaturprofessor Karl Riha Gomringer 1995 im Rückblick nennen, und früh schon erkennt Max Bill seine Bedeutung und holt ihn 1954 als Sekretär an die Ulmer Hochschule für Gestaltung.1958 aber steht er wieder zur Disposition und muss, bis er 1978 Dozent an der Kunstakademie Düsseldorf wird, die Passion für die brotlose konkrete Poesie als Propagandachef der Schleifmittelfabrik SIA in Frauenfeld und Kulturbeauftragter von RosenthalPorzellan in Selb im Fichtelgebirge finanzieren. Und andere Passionen auch, schenken ihm die Bernerin Klara Stöckli und die deutschen Partnerinnen Marianne Heide und Nortrud Ottenhausen bis 1980 doch sieben Söhne und die Tochter Nora-Eugenie, die ab 2000 als Slam-Poetin Furore machen sollte. Dozent in aller Welt, mit unzähligen Preisen geehrt und fast schon seine eigene Legende, versöhnte sich der Avantgardist Gomringer, geboren am 20. Januar 1925, im achten Lebensjahrzehnt mit der Tradition: sein 2008 deutsch und englisch erschienenes Buch «Eines Sommers Sonette» enthielt neunzehn gereimte Gedichte und endete mit: «dir nortrud dank geglückt ist das bezweckte». Gomringer, der in Deutschland zu seiner Bedeutung als einer der wesentlichen Vertreter der modernen konkreten Poesie gekommen ist, hat zur Schweiz, die sich seiner erst spät wieder erinnerte, ein eher zwiespältiges Verhältnis. Sein hier zitiertes Gedicht «schwiizer» brachte das schon vor Jahrzehnten ebenso träf wie originell auf den Punkt. Und noch 1995 sagte er in einem Interview: «Zwar hätte ich als Soldat die Schweiz verteidigt, und das würde ich wahrscheinlich auch heute noch tun, denn ich finde die Schweiz eine wunderbare Idee, doch die Realität schert mich etwas weniger.»