Friedrich Glauser 1896–1938
Sucht man nach den Gemeinsamkeiten, die das Besondere von Romanen und Erzählungen wie «Gourrama»,
«Wachtmeister Studer», «Matto regiert», «Die Fieberkurve», «Krock & Co.» oder
«Der Chinese» ausmachen, so kommt man auf die folgenden: Vertrautheit mit der Atmosphäre von
Zuchthäusern, Irrenanstalten und anderen Situationen des radikalen Ausgegrenztseins, Verständnis für die Not
des Aussenseiters, des Zu-kurz-Gekommenen, das Wissen um die Verführbarkeit des Menschen und die Erfahrung der
Brüchigkeit aller Normen, Gesetze und Autoritäten. Und natürlich überrascht es nicht, dass ein Autor,
dessen Werk all das spiegelt, diese Erfahrungen auch im eigenen Leben gemacht hat. Am 4. Februar 1896 als Sohn eines
Schweizers in Wien geboren, erlebte Friedrich Glauser die Unbehaustheit und Verlorenheit gleich schon in der zerrütteten
elterlichen Familie. Ab 1910 eignete er sich im Landerziehungsheim Glarisegg das liebesdurstige Internatssyndrom an, 1910
bekam er in der Gebirgsartillerie-RS eine Ahnung von jenem kalten militärischen Drill, dem er 1921–1923 in der
Fremdenlegion wieder begegnen sollte. Aber schon 1918 war es dem Vater gelungen, den verbummelten Studenten und Mitläufer
der Zürcher Dadaisten «wegen liederlichem und ausschweifenden Lebenswandel» entmündigen zu lassen.
Münsingen, Holligen, Burghölzli hiessen die Stationen, wo der «willensschwache und moralisch ungenügend
entwickelte» junge Mann «kuriert» wurde, bis es ihm gelang, in die Fremdenlegion abzuhauen. Schwer
drogensüchtig zurückgekehrt, ging es ab 1925 weiter mit Münsingen und dem Zuchthaus Witzwil, wo er in Direktor
Kellerhals einen Freund und in Hugo Marti einen Redaktor fand, der seine Kurzgeschichten im «Bund» druckte. Eine
Gärtnerlehre und ein Paris-Aufenthalt als Journalist brachten nicht die erhoffte Stabilisierung, und so ist
«Wachtmeister Studer», der Roman, mit dem Glauser 1936 in der «Zürcher Illustrierten»
debütierte, 1934/35 in der Irrenanstalt Waldau entstanden. Der Erfolg brachte es mit sich, dass Glauser weitere
Studer-Krimis schreiben konnte, und schliesslich gelang es ihm ab 1936 in der Bekanntschaft mit der Krankenschwester Berthe
Bendel, den Teufelskreis von Sucht und Verwahrung zu durchbrechen. In Angles bei Chartres und in La Bernerie in der Bretagne
konnte er endlich relativ frei an seinen Texten arbeiten, und 1938 gelang es den beiden sogar, eine wärmere Bleibe in
Nervi bei Genua zu finden. Dort wollte Glauser einen Schweizer Roman für die Landesausstellung 1939 schreiben, als er am
8. Dezember 1938, einen Tag nach dem Hochzeitstermin mit Berthe, mit 42 Jahren von einem Tod dahingerafft wurde, von dem man
nach wie vor nicht sicher weiss, ob er auf einen Herzinfarkt oder eine Überdosis Schlaftabletten zurückzuführen
ist. Den eigentlichen Durchbruch hat Glauser nicht mehr erlebt. Bis auf die Verfilmungen von «Wachtmeister Studer»
(1939) und «Matto regiert» (1947) blieb es zunächst still um sein Werk, bis es 1968 als dasjenige eines
bemerkenswerten Aussenseiters und verkappten Gesellschaftskritikers neu entdeckt wurde. 1981 erschien Gerhard Saners
fulminante Glauser-Biografie, und zwischen 1969 und 1999 wurde sein Werk dreimal in Gesamtausgaben unterschiedlichen Anspruchs
neu ediert, sodass der Mann, der das Ausgegrenztsein wie kaum ein anderer erlebt hat, inzwischen zu einem der angesehensten
Klassiker der jüngeren Schweizer Literatur avanciert ist.
CH-Media vom 04.02.2021