«L'Immoraliste»: André Gide (1869-1951)

Er sei erst im Erwachen seiner Liebe zu ihr zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, schrieb André Gide 1938 über Madeleine Rondeaux, die er 1891 mit den «Cahiers d'André Walter» für sich hatte gewinnen wollen, obwohl für den 22jährigen eine «sündige» Annäherung an die engelhafte Cousine undenkbar war. 1902, in «L'immoraliste», verriet er, wie's wirklich war. Hinter dem Puritaner-Sohn, der dem sterbenden Vater zuliebe die grazile Marceline heiratet, in Marokko aber seine päderastische Neigung entdeckt und nach dem Tod der Frau den Immoralismus offen auslebt, steht nämlich zum guten Teil Gide selbst. Dies, obwohl Madeleine, die er 1895 der Mutter wegen tatsächlich geheiratet hatte, sein Coming-out um Jahrzehnte überlebte und sicher war: «Mir hat das Beste Deiner Seele gehört, die Zärtlichkeit Deiner Jugend. Und ich weiss, mir wird, ob ich lebe oder tot bin, auch die Seele Deines Alters gehören.» Gides Versagen war im Grunde ein Liebesbeweis, zeugte er doch in einer weniger idealen Beziehung, jener zu Elisabeth van Rysselberghe, 1923 gar eine Tochter! Ehekrise Nr.1 war übrigens die Madeleine arg enttäuschende Hochzeitsreise in die Schweiz. Kein Wunder denn, dass es in «L'immoraliste» heisst: «Mir graut vor den ehrbaren Leuten... Das aufrechte Schweizervolk! Sein Wohlverhalten bringt ihm nichts ein... ohne Verbrechen, ohne Geschichte, ohne Literatur, ohne Künste - ein kräftiger Rosenstock ohne Dornen und Blüten.»