Max Frisch 1911-1991

"Zusammen mit dem ersten Kind, das mich aus dem Arbeitszimmer verdrängte, kam die Erzählung ,Bin oder Die Reise nach Peking', die wir vor der Veröffentlichung noch ein Jahr lang lagerten; und Glück in einem architektonischen Wettbewerb, der einen grossen und schönen Auftrag der Stadt Zürich einbrachte, ermöglichte nun auch das eigene Büro ..." So lapidar berichtet Max Frisch 1949 von der Entstehung der Erzählung "Bin" und von der Auftragserteilung für das Freibad Letzigraben (gebaut 1945/49). Und heute? Fast fünfundsiebzig Jahre dazugezählt, und Literatur erscheint dauerhafter als Zement! Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist das "Letzi" ein Bad von anno dazumal, leicht altmodisch bereits und nur allzu deutlich dem Geschmack von 1945 verpflichtet. Das Buch dagegen hat nicht das Leiseste von seiner Frische eingebüsst und wirkt auf heutige Leserinnen und Leser genauso zauberhaft poetisch und geheimnisvoll wie auf jene von 1945, als Eduard Korrodi und Emil Staiger ebenso begeistert darauf reagierten wie Hans Mayer. Es ist dieser Bin ja keine reale Figur, sondern eine Traumgestalt, ein poetisches Wesen, das die Sehnsucht und das bessere Ich des Erzählers Kilian verkörpert; ein Alter Ego, das seine Wünsche lebt und darum tatsächlich ausführt, was Kilian eigentlich tun möchte, seiner bürgerlichen Bindungen wegen aber unterlässt. Und auch das Peking, zu dem die beiden unterwegs sind, ist nicht ein realer Ort, sondern ein Sinnbild für Seligkeit und Glück. Wäre es erreicht, so würde es seinen Zauber verlieren, und deshalb muss es unerreichbar bleiben, muss die ganze Geschichte, die da erzählt oder eigentlich nur leise angedeutet wird, offenbleiben, offen auch für die mitträumende, begeisterungsfähige Leserschaft. Wunderbar übrigens die eingestreuten "Kurzgeschichten": jene vom nackten Mädchen in der Tonne etwa oder die tiefsinnige vom Selbstmörder, der sich vor dem Wasser geniert. Unvergesslich auch Bins Worte vom Fehlen Gottes: "Ich glaube fast, es fehlt euch allesamt ein wenig der liebe Gott, nichts weiter. Nirgends aufgehoben, sehnt jeder sich nach der sicheren Achtung von Seiten der Menschen - so sehr, dass er alles darüber vergisst, sogar seine natürliche und vorhandene Liebe ihnen, das, was ihn allein von seinem dürren Geiz befreite." "Bin oder Die Reise nach Peking", dieses duftig-leichte Zeugnis von Frischs glücklicher Frühzeit, kann natürlich nicht in Konkurrenz treten zu späteren gewichtigeren und folgenschwereren Werken wie "Andorra", den beiden Tagebüchern, "Stiller" oder "Montauk". Kilian jedenfalls hat nicht unrecht, wenn er zu Bin sagt: "Glücklichsein, das gilt ja nicht als Leistung, die uns Ehre einträgt." Als das Kleinod eines restlos gelungenen dichterischen Gesellenstücks aber wird "Bin oder Die Reise nach Peking" immer wieder neue Leser zu entzücken vermögen.

Weitere Dokumente:

Zum 10. Todestag von Max Frisch (Der kleine Bund 2001)

Frisch und die NZZ (Der Bund 2003)

Gedanken zu "Triptychon" (Schaffhauser Nachrichten 1978)

Max Frisch und Uwe Johnson (Der Bund 1999)

Max Frischs New Yorker Vorlesungen (Der Bund 2008)

Frisch: "Der Mensch erscheint im Holozän" (Der Bund 1979)