Deutschland als Hoffnung: Karl Emil Franzos (1848-1904)

Wer seine Vorstellungen vom osteuropäischen Schtetl vom singenden Milchman Tevje aus «Anatevka» bezog, ist schockiert von der Schilderung, die «Die Juden von Barnow» (1877) oder der Roman «Pojaz» (1905) davon geben. Da leben die Menschen in einer hoffnungslos veralteten, von bigotten Rabbinern in archaischer Dunkelheit gehaltenen Welt unter absolut unzumutbaren Moral-, Ehe- und Frömmigkeitsgeboten fern jeder Freiheit und Aufklärung. Sender Glatteis, der Pojaz (Bajazzo) des erwähnten Romans, begeistert sich, obwohl er nur jiddisch spricht, für Lessings «Nathan», lernt heimlich Deutsch und will Schauspieler werden, stösst aber auf das Nein der Dorfoberen, bis er eines Tages abhaut, die Löckchen rasiert und in Czernowitz «ein Deutsch» wird. Eine Bühne hat ihn schon engagiert, als das Getto ihn wieder einholt und er zurück muss. Da rettet er die Stiefmutter vor einem brutalen Schläger, darf endlich ganz offiziell Schauspieler werden, erliegt aber unerwartet einem Blutsturz. Karl Emil Franzos - 1848 in Czortkow (Barnow!) geboren, Journalist und Schriftsteller statt Richter oder Professor (was er als Jude nicht hatte werden können), erster Herausgeber von Büchners Werken, als (traditioneller) Novellist eine Zeitlang viel gelesen - sah auch selbst in der deutschen Kultur die einzige Zukunftschance für die als rückständig beurteilte jüdische Kultur des Ostens. Dennoch zögerte er 1893, als «Pojaz» nach 23 Jahren fertig war, mit der Publikation. In Russland waren Juden-Progrome an der Tagesordnung, der Westen stand im Banne der Dreyfus-Affäre, und deshalb war es nicht opportun, ein Buch zu drucken, das, wenn auch humorvoll, die osteuropäischen Juden als zurückgeblieben und die deutsche Kultur als deren Rettung hinstellte. So starb Franzos am 28.1.1904 in Berlin ohne sein Hauptwerk veröffentlicht zu haben, aber auch ohne erleben zu müssen, wie die so hoch gepriesenen Deutschen auf bestialische Weise zu Totengräbern der Juden Osteuropas wurden.