Anna Felder *1937

Bevor am 7. Juni 1970 die Schwarzenbach-Initiative bachab geschickt wurde, druckte die «NZZ» den Roman «Quasi Heimweh» ab, der auf einfühlsame, aber unpolemische Weise um Verständnis für die von der Ausweisung bedrohten italienischen Arbeiter warb. Die junge Lehrerin, die den Gastarbeiterkindern Unterricht in ihrer Muttersprache erteilt und so die Schwierigkeiten kennenlernt, die sie und deren Eltern mit der überaus ordentlichen, aber fremdenfeindlichen Schweiz haben, diese junge Lehrerin brachte Beobachtungen zu Protokoll, wie sie auch ihre Autorin, die am 30. Dezember 1937 in Lugano geborene, an der Kantonsschule Aarau lehrende Anna Felder, gemacht hatte. Der Roman, der 1970 in der Übersetzung von Federico Hindermann sowohl in der «NZZ» als auch als Buch erschien und erst 1972 als «Tra dove piove e non piove» in Italienisch herauskam, schildert zwar die Lage der Gastarbeiter mit spürbarer Anteilnahme, ist aber alles andere als ein politisches Pamphlet. Es ist in erster Linie die Geschichte einer jungen Frau, die sich, obwohl sie an der Liebe vorerst scheitert, einen neuen, adäquaten Lebenskreis zu erobern versteht. Und es ist das Gesellenstück einer Autorin, die Giovanni Orelli 1982 in einem Atemzug mit Vittorini und Beckett nennen sollte. Was in «Quasi Heimweh» nur schon ein Bild wie jenes von einer Gruppe ein- bis vierjähriger, wie eine Blumengirlande der Strasse entlangschwebender Krippenkinder nachvollziehbar macht: «Sie waren alle zu einer Traube zusammengebunden und an den Zügeln festgemacht, deren zwei Enden die in blau-weisse Popeline gekleidete Kindergärtnerin mit den Haubenflügelchen über dem Chignon in Händen hielt. Sie schwankten wie kleine Wackelgreise, in Tücher, Windeln, nasse Gummihosen verpackt; wenn das eine umfiel, trat ihm das nächste über den ausgestopften Hinterteil, tat noch einen halben Schritt und kugelte mit allen andern hin ... Dann begannen sie aufs Neue langsam vorzurücken und schoben sich in Stössen weiter, stockend und überschwappend, wie von einem Engel vor sich her geblasen, der den Schluckauf hat.» «Wenn ich schreibe, störe ich die Ordnung immer ein wenig», hat Anna Felder von sich gesagt. «Ich bin stets auch von dem angezogen, was hinter der Fassade liegt.» Ein exakter, irritierender, aber liebevoller Blick hinter die Oberfläche der Dinge zeichnet denn auch ihr Werk bis heute aus: Romane wie «Ladisdetta»/ «Umzug durch die Katzentür» (1974/ 1975) oder «Le Adelaidi»/ «Die Adelaiden» (2007/2010), vor allem aber die Kurzgeschichten der Bände «Gli stretti congiunti»/ «Die nächsten Verwandten» (1980/1993) und «Nati complici»/«No grazie» (1999/2002), mit denen sie ihr Überzeugendstes vorlegte. «Der Abwesende» heisst eine Figur im erstgenannten Band, ein Patriarch, der eigentlich nie da ist und der heimlich doch auf eine sinnlich-ekstatische Weise mit dem Haus verbunden ist. Tiefgründig ist auch «Das Meer im Gras» in «No grazie»: die Geschichte einer italienischen Putzfrau, die nach einem arbeitsreichen Leben nicht mehr weiss, wo sie lieber ist: am Meer, nachdem sie sich immer gesehnt hat, oder auf dem Schweizer Friedhof, wo ihr Geliebter ruht. Ein Meisterstück an liebevoller Beobachtung ist, im gleichen Band, «Ein Vater in Arth-Goldau», wo eine Zugreisende, als sie sieht, dass ein Vater seiner Tochter vergeblich nachwinkt, einen Moment lang winkend an die Stelle der Tochter tritt und dem Mann so eine Illusion von Tochterliebe vermittelt.

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 08.10.2019