Jürg Federspiel 1931–2007

Man könne ihn «aus den vielen heraushören», urteilte Werner Weber, als Jürg Federspiel, geboren am 28. Juni 1931 in Kemptthal, sich 1961 mit den Erzählungen «Orangen und Tode» neben Debütanten wie Jörg Steiner, Paul Nizon und Peter Bichsel stellte. Heraushören konnte man aus den Büchern des Reporters und Filmkritikers auch später nicht nur die exakten, brillant recherchierten Sachverhalte, sondern auch die Affinität zu den Themen Liebe, Melancholie und Tod, die ihn lebenslang im Griff hielten. Der Erstling, der nicht vom Leben, sondern vom Überleben erzählte und mit der Beschreibung eines Mannes begann, der sich mit dem Karabiner erschiesst, fand im «Museum des Hasses» von 1969, diesem unbeschönigten Bericht über ein New York, in dem der junge Schweizer zunächst nichts als Rasierklingen gesehen und das ihn mit Visionen von Tod und Sexualität überfallen hatte, thematisch seine Fortsetzung. Und in der «Ballade von der Typhoid Mary», Federspiels berühmtestem Buch, konzentrierten sich 1982 dann Tod, Liebe und Sexualität unablösbar auf eine einzige Figur: die schöne Bündner Köchin Maria Caduff, die als Todesengel durch New York zieht und den Typhus verbreitet, ohne selbst daran zu sterben. Abgesehen davon, dass es ungewollt das Epidemische und mit der Sexualität Verschwisterte von Aids vorwegnahm, lieferte das Buch auch das Stichwort für eine Tendenz, die noch längst nicht vom Tisch ist. Dr. Rageet diagnostiziert an Mary «eine Gleichgültigkeit, die uns zuweilen anfällt und die nun als letzte, wahrscheinlich endgültige Seelenpest über uns hereinbricht. Ein Gespenst geht um, und das Gespenst heisst Hoffnungslosigkeit.» Auch «Geografie der Lust» (1989), Federspiels sinnlichstes und farbigstes Buch, das von den spektakulären Folgen der kunstvollen Tätowierung handelt, die der Mailänder Lebemann Robusti auf dem Po der schönen Laura anbringen lässt, enthält erneut eine zukunftweisende Erkenntnis. Da nämlich, wo am Himmel die Inschrift erscheint: «Das Zeitalter der Scham ist endgültig vorbei. Gott hat uns verziehen. Unsere Haut ist unsere Bekleidung. Sie gehört uns!» Mit dem Tod blieb der Weltenbummler stets in Tuchfühlung. Aus dem Trauma von 1949, als er in Davos zusah, wie sein tuberkulosekranker Vater den Sauerstoffhahn zudrehte und starb, folgerte er später: «Man kann den Toten nicht widersprechen, man muss sie in den Befestigungsanlagen aufsuchen, die wir für sie erfunden haben.» 1959 war er selbst an der Reihe und musste sich die halbe Lunge entfernen lassen, um – nicht ohne Handicap – weiterleben zu können. 1997 aber, als er das Davos seiner Jugend zum Schauplatz eines Zeitromans machen wollte, liessen ihn Polyneuropathie, Diabetes und Parkinson kapitulieren. Auch die Liebe blieb Sehnsucht statt Erfüllung. Letztere fand er weder mit seiner ersten Frau, noch mit der ebenso intelligenten wie zierlichen Antifeministin Esther Vilar («Der dressierte Mann»), noch in einer letzten Liaison, mit der er sich in ein Thurgauer Dorf zurückzog. Zoë Jenny berichtet 2013 in ihrem Band «Spätestens morgen» von letzten zärtlichen Anwandlungen des schwer melancholisch Gewordenen in New York und Basel im Herbst 2006. «Um vier Uhr morgens ist die Zeit der Exekutionen», soll er der jungen Kollegin gesagt haben. Und genau um diese Stunde muss es gewesen sein, dass er am 12. Januar 2007 mitten in Basel unbemerkt im Rhein den Tod gesucht hat.