Dichtung von visionärer Kraft: Odysseas Elytis (2. November 1911 - 18. März 1996)

«Unangetastet wird allein/die Rache bleiben/Eisen und Stein sind von eigener Art/Sie werden uns zwingen/und wir eine neue Steinzeit erleben/das Grauen inmitten tobender Drachenechsen.» Wenn es stimmt, dass die ersten Dichter Seher waren, so hat Odysseas Elytis, der am 2. November 1911 im kretischen Heraklion geboren wurde, Jahrtausende später ihre Nachfolge angetreten. «Maria Nepheli» heisst das zitierte Poem, das 1979 erschien, im Jahr, als Elytis den Nobelpreis erhielt. Zu Maria Nepheli, die nicht nur Maria und Kassandra, sondern das ganze weibliche Geschlecht verkörpert, tritt der Autor selbst mit nicht minder prophetischer Gebärde hinzu: «Füllen wird sich die Kruste/mit schwarzen Kratern und Strahlenblitz/und langsam der Mensch sich wenden und winden/bis nichts mehr von ihm übrig ist./ Mut. Jetzt./Mein Gott, lass zumindest die Lust mich retten./Reich mir den Dolch!» Das Meisterwerk des Dichters, der kein weltfremder Ästhet war, im Krieg als Partisan kämpfte, später als Radiodirektor arbeitete und in Paris mit Matisse, Picasso und Giaccometti Umgang hatte, ist der 1959 publizierte, von Mikis Theodorakis vertonte Zyklus «To Axion Esti»: eine kultisch-religiös klingende und doch ganz diesseitig-weltlich orientierte Dichtung, die die Genesis eines «reinen Menschen kämpferischer Unschuld» mit der Geschichte Griechenlands und dem Nachdenken über Kraft und Wesen der Dichtung verbindet. Wobei nicht nur die Bibel, Homer und Heraklit, sondern auch Hölderlin und Novalis evoziert werden, die Sprache aber ganz dem Surrealismus verpflichtet ist. Wortgewaltig wie kein Zweiter, suchte Elytis zeitlebens nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und gestand 1995, ein Jahr vor seinem Tod am 18. März 1996, im Band «Westlich der Trauer» dennoch ein: «Sprachlos bleibt der Mensch (. . .), während das Meer uralte Geheimnisse flüsternd mitteilt.»